Manche Erinnerungen sind so traumatisch, dass sie ein normales Funktionieren im Alltag nahezu unmöglich machen. Für viele Menschen könnte es daher eine echte Befreiung sein, wenn sie gezielt vergessen könnten. Doch ist das überhaupt möglich? Wissenschaftler forschen schon länger an Medikamenten, die traumatische Erinnerungen dämpfen sollen. Ihre Idee: Wenn Erinnerungen abgerufen werden, sind sie formbar – könnten sie dann nicht auch löschbar sein?
Einer der Begründer dieser Forschung ist der Neurobiologe Joseph LeDoux von der New York University. Er hat Ratten mithilfe von Stromstößen darauf konditioniert, Angst vor einem bestimmten Ton zu haben. Weil sie sich beim Hören des akustischen Signals an die schmerzhafte Behandlung erinnerten, erstarrten die Nager bald auch vor Schreck, wenn sie nur den Ton hörten. Der Forscher schaffte jedoch etwas Erstaunliches: Er befreite die Ratten wieder von ihrer Angst.
Vergessenes Trauma
Zu diesem Zweck spielte er den Tieren erneut das angstauslösende Geräusch vor. Anschließend injizierte er ihnen eine Art Gedächtnisblocker – einen Stoff, der die Produktion bestimmter Eiweiße im Gehirn hemmt, die für das Abspeichern von Erlebnissen wichtig sind. Das Ergebnis: Die Tiere verloren die Furcht vor dem Ton. Die Verbindung zwischen Geräusch und Stromschlag war gelöscht worden.
Doch warum funktioniert das? Bei jedem Abrufen von Erinnerungen werden die Gedächtnisinhalte erneut abgespeichert. Wird dieser Prozess gestört, verblasst die Erinnerung offenbar. Sie kann schlechter abgerufen werden, so die Theorie.
Erinnerungen verlieren an Wucht
Ähnliches ist Wissenschaftlern inzwischen auch bei Menschen gelungen: In Studien riefen Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen ihre Erinnerungen an schlimme Erlebnisse bewusst wach und bekamen dann den Betablocker Propranolol verabreicht. Dieser blockiert die Rezeptoren für das Stresshormon Adrenalin, senkt den Blutdruck und die Produktion von Gedächtnisproteinen.
Nach mehrmaligem Wiederholen dieser Prozedur zeigte sich: Die Erinnerung an das traumatische Erlebnis wurde für die Betroffen weniger belastend. Sie regten sich weniger auf, fühlten sich befreit. Vergleichbare Ergebnisse konnten auch mit anderen Wirkstoffen erzielt werden. Unter anderem scheint das Stresshormon Cortisol den Gedächtnisabruf ebenfalls zu hemmen und die Wucht der Erinnerung damit zu reduzieren. Komplett gelöscht werden die Erinnerungen somit zwar nicht. Aber immerhin verblassen die damit verbundenen Emotionen.
Die reine Absicht genügt
Noch bemerkenswerter ist, dass wir die Hilfe pharmazeutischer Mittel mitunter gar nicht brauchen, um gezielt zu vergessen: Schon die Willenskraft allein reicht dafür aus. Das zumindest legen Experimente wie das von Karl-Heinz Bäuml von der Universität Regensburg und seinen Kollegen nahe. Sie haben Probanden aufgefordert, sich nacheinander zwei Wortlisten einzuprägen.
Um die Teilnehmer zum Vergessen zu animieren, gaukelten die Forscher ihnen etwas vor und behaupteten nach dem ersten Durchgang: Vergesst die erste Liste, denn wir hatten einen Computerabsturz und müssen das Experiment leider neu starten. Dieser konkrete Vergessenshinweis löste bei den Probanden tatsächlich ein Löschen der gelernten Informationen aus. Im Gegensatz zu einer Kontrollgruppe, die den Hinweis nicht bekommen hatte, konnten sie sich die Wörter aus der ersten Liste in einem späteren Test nur schlecht ins Gedächtnis rufen.
Die Absicht, etwas aus dem Speicher im Gehirn zu löschen, scheint dabei unerwartet nachhaltig zu wirken. So erschwerte dieser Effekt das Erinnern im Experiment sogar wirkungsvoller als eine unerwartete Ablenkung während des Auswendiglernens. Gezielt zu vergessen – es scheint demnach prinzipiell möglich zu sein.
Daniela Albat
Stand: 17.11.2017