Im Frühjahr 1848 spielt der Komponist Frédéric Chopin in einem Konzert gerade eine seiner Sonaten, als er mittendrin abbricht, abrupt aufsteht und das Podium verlässt. Noch am Tag später rätseln Publikum und Musikkritiker über den seltsamen Vorfall – denn Chopin bleibt dazu stumm und ernsthaft erkrankt scheint er auch nicht zu sein.
Kreaturen aus dem Flügel
Eine Erklärung für sein seltsames Verhalten liefert der Musiker erst Monate später in einem Brief an die Tochter seiner Geliebten George Sand. Er beschreibt, wie er plötzlich seltsame Kreaturen aus dem Flügel aufsteigen sah. Diese Gestalten erschienen ihm völlig real und bedrängten ihn so, dass er den Raum verlassen musste. Auch bei mehreren anderen Gelegenheiten schildert der Komponist „Kohorten von Phantomen“, die ihm Angst einjagten.
Heute ist klar: Chopin litt unter Halluzinationen. Er sah Dinge, die ihm seine Wahrnehmung nur vorgaukelte. Der Neurologe Oliver Sacks beschreibt das Phänomen als „Wahrnehmungen, die in Abwesenheit jedes äußerlichen Anlasses auftauchen – man sieht oder hört Dinge, die gar nicht da sind.“
Darin unterscheiden sich Halluzinationen von bloßen Sinnestäuschungen, bei denen ein äußerer Reiz zwar wahrgenommen wird, aber von Gehirn verzerrt oder falsch interpretiert wird. Und auch Träume sind den Halluzinationen nur auf den ersten Blick ähnlich. „Halluzinationen scheinen zwar oft die Kreativität unserer Vorstellungen, Träume oder Fantasien zu besitzen, doch auch wenn sie einige neurophysiologische Merkmale mit ihnen teilen, sind Halluzinationen doch eine einzigartige und spezielle Kategorie unseres Bewusstseins und mentalen Lebens“, sagt Sacks.
Musik, Stimmen oder Gerüche
Halluzinationen können visuell sein, wie bei Chopins „Phantomen“, sie können aber auch fast alle anderen Sinne betreffen. Einige Betroffene spüren eine Berührung, wo keine ist oder riechen Düfte selbst in völlig geruchloser Umgebung, andere hören Musik: „Ein Patient hörte ständig populäre französische Chansons, ein anderer Mozart und wieder ein anderer Glenn Millers Bigband-Musik“, berichtet die Neurologin Eva Schielke von der Charité in Berlin.
Besonders typisch ist jedoch das „Stimmen hören“: Sie ist neben optischen Erscheinungen die mit Abstand häufigste Form von Halluzinationen. „Diese Stimmen sind nicht einfach unerwünschte Gedanken oder innere Stimmen“, stellt Nev Jones von der Stanford University klar. „Stattdessen erscheinen sie als von uns getrennte Entitäten mit eigenen Persönlichkeiten und Inhalten.“
Das Spektrum des Stimmenhörens reicht dabei von einzelnen, nur manchmal gehörten Ausrufen oder Sätzen einer fremden Stimme bis zu ganzen Gruppen von verschiedenen Personen, die mit einem zu sprechen scheinen. „Ich höre etwa 13 verschiedenen Stimmen“, beschreibt die Britin Sarah Waddingham ihre Halluzinationen. „Jede von ihnen ist anders – einige haben Namen, sie klingen wie verschiedenen Menschen und sind unterschiedlich alt. Einige sind sehr wütend und aggressiv, andere eher verängstigt oder mutwillig.“
Wie aber entstehen diese teilweise erstaunlich komplexen Eindrücke aus dem Nichts?
Nadja Podbregar
Stand: 24.02.2017