Pharao Echnaton, der Apostel Paulus und Johanna von Orleans: Sie alle erlebten einschneidende Visionen, die ihre Leben komplett veränderten. Aber was genau waren dies für Erlebnisse? Könnte es sich dabei schlicht um Halluzinationen gehandelt haben? Nach Ansicht des Neurologen Oliver Sacks ist das durchaus wahrscheinlich: „Man muss sich fragen, in welchem Maße halluzinatorische Erfahrungen zu unserer Kunst, Kultur und selbst Religion beigetragen haben“, meint er.
Anfall statt göttliche Vision?
Tatsächlich ähneln die überlieferten Schilderungen vieler religiöser Visionen den Halluzinationen, die beispielsweise bei Schizophrenie auftreten. Viele Betroffene berichten von quasi-religiösen oder sogar explizit religiösen Erfahrungen – und das so häufig, dass solche Halluzinationen sogar als typische Merkmale solcher Psychosen gelten.
Eine andere mögliche Quelle intensiver Visionen sind epileptische Anfälle im Schläfenlappen. Sie erzeugen in manchen Fällen ebenfalls quasi-religiöse Halluzinationen, wie Sacks erklärt. So erlebte der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski regelmäßig Anfälle, die ihn geradezu in religiöse Ekstase versetzten. „Ich habe Gott berührt, er kam in mich!“, beschreibt Dostojewski eines dieser Erlebnisse. „Ich weiß nicht, ob dieses Glück Sekunden, Stunden oder Monate andauert, aber glauben Sie mir, unter allen Freuden, die das Leben bringen mag, würde ich diese mit nichts eintauschen.“
Durch solche epileptischen Anfälle erzeugte Halluzinationen könnte nach Ansicht einiger Forscher der ägyptische Pharao Echnaton erlebt haben – sie lieferten ihm möglicherweise die Inspiration für seinen Aton-Kult. Auch die Visionen von Johanna von Orleans – dem Bauernmädchen, das plötzlich Marienerscheinungen hatte – gehen nach Meinung einiger Neurologen auf epileptische Anfälle im Schläfenlappen zurück.
Inspiration für große Kunst
Parallelen gibt es auch zwischen einigen typischen Formen der Halluzination und den Motiven vieler Kunstwerke. So ähneln die geometrischen Motive auf vielen Felsbildern der Aborigine auffallend den Mustern, die bei Migräne-Auren oder durch Drogen verursachten Halluzinationen auftreten. Ähnliches ergab auch eine Analyse von Höhlenbildern aus der Steinzeit: Auch in ihnen glauben einige Forscher klare Abbilder solcher neurologischen Aktivierungsmuster zu erkennen. Zumindest einige der prähistorischen Künstler und Schamanen könnten demnach Pilze und andere halluzinogene Drogen eingenommen haben, während sie malten.
Viele Dichter, Maler und Musiker des 19. Jahrhunderts bewusst Drogen, um Halluzinationen zu erleben. Sie sahen in ihnen eine Inspiration für ihre Kunst. Der französische Schriftsteller Charles Baudelaire beschrieb explizit seine halluzinatorischen Erlebnisse während des Haschisch-Rauschs, seine Zeitgenossen Samuel Taylor Coleridge, Thomas de Quincey oder John Keats sollen Teile ihrer Gedichte inspiriert vom Opiumrausch geschrieben haben.
Eher unfreiwillig dagegen waren die Halluzinationen beim norwegischen Maler Edvard Munch, bekannt durch das Bild „Der Schrei“. Er litt Zeit seines Lebens unter Halluzinationen und Angstzuständen. Er beschreibt diesen Zustand so: „Einige Jahre lang war ich fast verrückt. Bei meinem Bild ‚Der Schrei‘ ging ich bis an die Grenze – die Natur schrie in meinem Blut.“
Nadja Podbregar
Stand: 24.02.2017