Phänomene

Wenn alle Sinne ausfallen…

Sonnenaktivität verbiegt die „Landkarte“

Friedrichskoog an der Elbmündung im Januar 2002: Sanft laufen die kleinen Wellen über das Watt in der Elbmündung. Die wenigen Meter Wasser über den Sandbänken geben nicht viel Raum für die rauen Wellen einer Tiefseeküste – Selbst in der Fahrrinne ist die Nordsee hier nicht viel tiefer als zehn Meter. Drei riesige Pottwale werden von einem Vermessungsschiff auf einer Sandbank gesichtet: eine Sensation. Denn normalerweise sind die bis zu 55 Tonnen schweren Kolosse in allen Weltmeeren zuhause, Hauptsache sie sind tief. Dort jagen die Tiere in bis zu 3.000 Metern unter der Meeresoberfläche ihrer Beute nach. Doch die Nordsee misst an der niedrigsten Stelle gerade mal 13 Meter – ein Mauseloch für Pottwale.

Aber nicht nur an deutschen Nordseeküsten, sondern auch Dänemark, Holland, Belgien und die Britischen Inseln sind Schauplatz für den traurigen Rekord von 82 gestrandeten Pottwalen allein in den 1990’ern. Meeresbiologen vermuten schon länger, dass Wale in der Nordsee nur schwer navigieren können, da das Biosonar in so flachem Wasser mit sandigem Untergrund wahrscheinlich kaum funktioniert und die Funktion des biologischen Kompass möglicherweise von den Magnetfeldern der Kabeltrassen gestört wird. Lärmende Bohrinseln, dichter Schiffsverkehr, hohe Schadstoffbelastung und Elektrosmog stören die Pottwale, Schweinswale und Delphine in ihrer Navigation vermutlich so, dass sie letztendlich auf Grund laufen.

Pottwalstrandungen in der Nordsee - haben deutsche Wissenschaftler die Antwort? © NOAA

Ist damit ausschließlich der Mensch für die Walstrandungen in der Nordsee verantwortlich? Durchaus denkbar, wenn da nicht detaillierte historische Aufzeichnungen von gestrandeten Pottwalen bereits lange vor der industriellen Nutzung der Nordsee berichten würden. Ein Einwand, der die Forscher zwingt bei ihrer Suche nach Ursachen die Entwicklung der letzten paar hundert Jahre zu berücksichtigen. Auch die Nachforschungen von zwei deutschen Wissenschaftlern vom Forschungs- und Technologiezentrum Westküste der Universität Kiel bestätigen 2005 das Argument: Durch die Auswertung von historischen Quellen konnten sie in den letzten knapp 300 Jahre immerhin 97 Strandungsereignisse von Pottwalen in der Nordsee für ihre Forschungen nutzen.

Ohne Magnetfeld keine „Landkarte“

Doch das sollte für Klaus Heinrich Vanselow und Klaus Ricklefs nur der erste Schritt ihrer Untersuchungen sein. Sie hatten schon eine andere Idee was der Grund für die Strandungen sein könnte: Vielleicht war ja doch der Magnetsinn der Tiere dafür verantwortlich. Seit Margaret Klinowska 1986 eine Orientierung der Wale mithilfe des Magnetfeldes als „Landkarte“ annimmt, haben Wissenschaftler immer wieder den Zusammenhang von Strandungen und Magnetfeldlinien in einzelnen Buchten untersucht, ohne eine weltweites Muster entdecken zu können. Doch der Physiker und Astronom Vanselow und der Geologe Ricklefs zielten bei ihren Forschungen auf ein anderes Detail: die Schwankungen des Magnetfeldes.

Die Schutzhülle umgibt die ganze Erde vom Nordpol zum Südpol mit magnetischer Energie. Die langsamen aber permanenten Schwankungen der magnetischen Pole stellen heute für Kompasse, Schiffsnavigation und auch Wale keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr dar. Wesentlich stärkeren Einfluss dagegen hat die Sonne auf das Magnetfeld. Die Brennstoffzelle unseres Sonnensystems arbeitet nicht konstant, sondern mit zyklisch schwankenden Leistungen in Perioden um die elf Jahre. Bei einer Sonnen-Eruption trifft der Sonnenwind mit so hoher Energie auf das schützende Magnetfeld, dass die Feldlinien sich unter der Belastung verändern und erst nach Tagen wieder den gewohnten Verlauf einnehmen.

Mithilfe der Anzahl von Sunspots, im Deutschen "Sonnenflecken", messen Wissenschaftler die Aktivität der Sonne. Je mehr Sonnenflecken, desto größer ist die Sonnenaktivität. Die Untersuchungen der Nasa können für die letzten knapp 300 Jahre einen Zyklus von etwa elf Jahren nachweisen. © NASA

Eine Veränderung, die nach Meinung von Vanselow und Ricklefs den Walen zum Verhängnis werden könnte. Bei den untersuchten Ereignissen strandeten von den 219 Pottwalen 90 Prozent während besonders kurzen, das heißt starken, Sonnenzyklen. Die plötzliche Störung der magnetischen Landkarte führt kurzzeitig zu einer völligen Orientierungslosigkeit der Wale, weil sie ihren biologischen Kompass nicht einsetzen können. Sind die Tiere zu dieser Zeit in den Weiten der offenen Meere unterwegs, schwimmen sie im schlimmsten Fall in die falsche Richtung, bis sie durch einen anderen Orientierungssinn, etwa das Biosonar, den Fehler bemerken und korrigieren. Aber in Küstengewässern oder flachen Schelfmeeren, wo ihre anderen Orientierungssinne schlecht oder gar nicht funktionieren, treiben die Wale blind auf die Strände. Der gleiche Grund könnte dafür verantwortlich sein, dass die Tiere sich überhaupt in die Nordsee verirren: Fällt ihre Navigation ausgerechnet dann aus, wenn sie entlang der norwegischen Küste nach Süden schwimmen, wählen sie irrtümlich den Abzweig in die Nordsee und sitzen in der Falle.

Nordsee und Australien – einer weltweiten Ursache auf der Spur?

Alle elf Jahre strahlt die Sonne besonders hohe Energiemengen ab. Alle elf Jahre wird dadurch das Magnetfeld der Erde gestört und alle elf Jahre steigen deshalb die Zahlen der Walstrandungen in der Nordsee an. Zwar ist die Nordsee kein typisches Gebiet für Pottwale und weißt als Schelfmeer auch nicht unbedingt die gleichen Bedingungen wie etwa Küstengewässer vor Australien auf, aber gerade deshalb könnten die Forschungsergebnisse von weltweiter Bedeutung sein. Wie unter einem Brennglas sind dort die Bedingungen besonders extrem und lassen sich ähnlich einem geschlossenen Laborversuch äußerst gut nachvollziehen.

Parallel zur Veröffentlichung der Untersuchungen von Vanselow und Ricklefs im Januar 2005 hatte die Australierin Karen Evans einen zeitlichen Zusammenhang von Walstrandungen in Australien und einem periodischen Klimaereignis vor den einheimischen Küsten nachgewiesen. Besonders starke Winde treiben kaltes Polarwasser nach Australien – alle elf Jahre. Ist diese zeitliche Übereinstimmung Zufall? Oder haben vielleicht die Grindwal-Strandungen in Australien und die Pottwale an den Nordseeküsten eine gemeinsame Ursache?

Klaus Heinrich Vanselow ist schon an der Sache dran: Einige mögliche Erklärungen für einen Zusammenhang hat er bereits durchgespielt und ist der Lösung auf der Spur. Sobald die eingereichten Ergebnisse veröffentlicht werden, könnte der Physiker neues Licht ins Dunkel um das Rätsel der Walstrandungen bringen.

  1. zurück
  2. |
  3. 1
  4. |
  5. 2
  6. |
  7. 3
  8. |
  9. 4
  10. |
  11. 5
  12. |
  13. 6
  14. |
  15. 7
  16. |
  17. 8
  18. |
  19. 9
  20. |
  21. 10
  22. |
  23. 11
  24. |
  25. weiter


Stand: 06.01.2006

Keine Meldungen mehr verpassen – mit unserem wöchentlichen Newsletter.
Teilen:

In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Orientierungslose Giganten
Warum stranden Wale?

Facts
Das Wichtigste in Kürze

Über 150 Wale in Neuseeland gestrandet
Gibt es noch Hoffnung?

Exakte Positionsbestimmung – auch ohne GPS
Wie Wale ohne Routenplaner die Weltmeere durchqueren

Ver(w)irrte Wale sterben auf dem Land
Massenstrandungen in aller Welt

Gift-Cocktail unter Wasser
Schadstoffe bringen den schleichenden Tod

Ein Lärmschutz für Wale?
Die Geräuschkulisse einer Großbaustelle

Schall-Bomben töten Meeressäuger
Militärübungen auf dem Meeresboden

Klimaveränderung sogar für Wale gefährlich?
Treibt der Wind die Wale auf die Strände?

Wenn alle Sinne ausfallen…
Sonnenaktivität verbiegt die „Landkarte“

Theorien, Spuren und Indizien
Das Rätsel ist noch nicht gelöst

Diaschauen zum Thema

keine Diaschauen verknüpft

News zum Thema

keine News verknüpft

Dossiers zum Thema

keine Dossiers verknüpft