Song kippt die Maschine in einen steileren Winkel und öffnet das Fenster, so dass er fast senkrecht nach unten fotografieren kann. Zwischendurch greift er kurz ans Steuer, korrigiert den Kurs, dann fotografiert er wieder, korrigiert, fotografiert. Zehn bis 20 Bilder pro Fundstelle macht er. Insgesamt kommen in einem Jahr rund 20.000 Fotos zusammen, die er alle archivieren muss. Jedes Objekt dokumentiert er mehrmals im Verlauf des Jahres. Denn stets können neue Details zutage treten, die zuvor nicht sichtbar waren.
Ein Weg im Maisfeld
Heute kompensiert der herrliche Sonnenschein die Kälte. Aber im Winter kann es in der kleinen Maschine ganz schön eisig werden. „Wenn ich bei offenem Fenster fotografiere, frieren schnell die Finger ein“, weiß der Forscher zu berichten. Deswegen wollte er sich Handschuhe zulegen – fingerlose, um noch fotografieren zu können. „Aber die Verkäuferin hat gesagt, das sei nur etwas für die Damen“, erzählt er lachend. „Meine Tochter hat sie dann für mich besorgt.“
Wir drehen ab nach Dorsten. Eine dunkle Linie verläuft unter uns schnurgerade durch ein Maisfeld. „Ein alter Weg“, vermutet Song und macht ein paar Bilder. Man könne ihn gerade nur sehen, weil der Bauer beim Pflügen Material aus tieferen Erdschichten nach oben befördere. „Nach dem nächsten Regen sieht man das nicht mehr“, so der Archäologe. Links und rechts des ehemaligen Weges sind runde Strukturen zu erkennen. „Vermutlich ist es eine alte Eisenbahntrasse, die im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurde.“
Verborgene Geschichte
Es ist beeindruckend, wie allgegenwärtig sich die Vergangenheit zeigt, wenn man die Landschaft von oben betrachtet. Vom Boden aus würde man nichts als Wiesen, Felder und Wälder wahrnehmen. Jeder Ort, den wir ansteuern – es sind zu viele, um sie alle ausführlich zu beschreiben – erzählt eine Geschichte, die verborgen geblieben wäre, wenn man nicht vom Himmel aus darauf geschaut hätte.
Auf dem Rückflug nach Marl haben wir Zeit, den Blick auf die Städte und die Natur im Licht der untergehenden Sonne zu genießen. Wir fliegen über die Autobahn 43 und stellen zufrieden fest, dass sich der Stau inzwischen aufgelöst hat. Als wir landen, dämmert es schon. Auf dem Flugplatz ist es leerer geworden. Also packe ich mit an, um die Maschine zurück in den Hangar zu schieben.
Ich verstehe nun besser, warum Baoquan Song all die Mühen für die Forschung auf sich nimmt: Fliegen und Spuren suchen, das macht Spaß. Und schlecht geworden ist mir zum Glück auch nicht.
RUBIN / Julia Weiler / Ruhr Universität Bochum
Stand: 08.04.2016