Theorien dazu, wie die unbewusste Sehwahrnehmung bei Blindsehern funktioniert, gibt es vermutlich fast so viele, wie es Forschergruppen gibt. Einig ist man sich aber immerhin darin, dass bei „Blindsehern“ das komplexe Gefüge des Sehens an einer entscheidenden Stelle unterbrochen ist: der primären Sehrinde. Mit ihr fehlt den Betroffenen genau die Einheit, die die letztendliche Auswertung der Sehreize übernimmt. Damit kann kein Bild des Wahrgenommenen mehr entstehen. Woher aber kommen die Signale, die trotzdem Reaktionen auf Sehreize ermöglichen?
Weinrote Quadrate und der Colliculus
Beatrice de Gelder und ihre Kollegen von der Tilburg Universität verorten den „Täter“ im Colliculus superior – und präsentierten dafür 2009 auch experimentelle Belege: In Versuch zeigten sie hemianoptischen Blindsehern entweder graue oder weinrote Quadrate auf der blinden Seite ihres Sehfelds. Die weinrote Farbe wird im Auge nur von einem bestimmten Typ von Sehsinneszellen registriert – und von diesen ist bekannt, dass sie keine Informationen an den Colliculus superior weitergeben.
Sollte der Colliculus tatsächlich die Hauptrolle im Blindsehen spielen, müssten die Patienten folglich auf die grauen Quadrate reagieren, nicht aber auch die weinroten. Und tatsächlich: Erschien ein graues Quadrat im blinden Bereich der Probanden, verengten sich unwillkürlich ihre Pupillen und die per Elektroden gemessene Aktivität im Colliculus superior nahm zu, wie de Gelder berichtet. Die Probanden nahmen diesen Reiz demnach unterschwellig wahr. Anders dagegen bei den weinroten Quadraten: Hier zeigte sich keine Reaktion, weder im Gehirn noch in der Pupille.
„Diese Ergebnisse zeigen, dass der Colliculus superior zu Verhaltensreaktionen auf visuelle Reize beiträgt – und dies völlig außerhalb der bewussten Sehwahrnehmung“, so Gelder. Gestützt wird ihre Ansicht durch Versuche mit Makaken: Wurde bei diesen der Colliculus superior zerstört, verloren sie auch ihre Fähigkeit zum Blindsehen.
…oder doch die Kniehöcker?
Aber es gibt auch noch einen anderen Kandidaten: die seitlichen Kniehöcker. Hier sehen unter anderem Forscher um Michael Schmid vom Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience in Frankfurt am Main den Urheber des Blindsehens. In ihren Experimenten konnten Makaken mit fehlender primärer Sehrinde kontrastreiche Reize problemlos orten.
Gleichzeitig zeigten Aufnahmen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), dass tatsächlich Signale in den untergeordneten Sehzentren ankamen. Auch die seitlichen Kniehöcker waren aktiv. Wurden bei den Affen jedoch auch die Kniehöcker deaktiviert, blieb jede Reaktion aus – sie waren komplett blind und hatten ihre Fähigkeit zum Blindsehen verloren. „Diese Ergebnisse zeigen, dass der seitliche Kniehöcker für das Blindsehen von zentraler Bedeutung ist, so Schmid.
Noch viele offene Fragen
Allerdings: Untersuchungen an Affen und menschlichen Patienten zeigen, dass der Kniehöcker ohne sein Ziel, die primäre Sehrinde, nicht lange funktionsfähig bleibt. Wird die Sehrinde zerstört, sterben die Projektionsneuronen in den wichtigsten Schichten dieser Schaltstelle ebenfalls ab. Nach zwölf Wochen waren sie in einer Studie bei Makaken komplett verschwunden. Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass einige Neuronen des Kniehöckers überleben – und zwar genau die Zellen, die Signale an Sehzentren außerhalb der primären Sehrinde weiterleiten.
Colliculus superior, Kniehöcker – oder vielleicht beide? Noch ist die Frage nicht endgültig geklärt, welche Hirnareale nun tatsächlich für das Blindsehen verantwortlich sind. Auch welche untergeordneten Zenten der Sehrinde dafür eine Rolle spielen und was genau dabei in ihnen vorgeht, ist noch weitgehend unbekannt. Die letzten Geheinisse dieses seltsamen Phänomens warten daher noch immer auf ihre Enträtselung.
Nadja Podbregar
Stand: 29.08.2014