Kosmodrom Tjuratam, 11. April 1961. Es ist der Vorabend des Starts. In einem kleinen Haus nahe der Startrampe 1 liegen die beiden Kosmonauten Gagarin und Titow bereits schlafend in ihren Betten. Jedes ihrer Lebenszeichen wird dabei über Sensoren an ihrem Körper überwacht, Druckfühler in der Matratze messen, ob sie ruhig liegen oder sich schlaflos umherwälzen. Doch beide sind offenbar im Tiefschlaf.
Vor wenigen Stunden haben sie noch letzte Anweisungen von den Raumfahrtingenieuren Konstantin Feoktistow und Boris Rauschenbach erhalten. Rauschenbach erinnert sich später: „Ich sah Gagarin an und mir wurde bewusst, dass dieser Junge morgen die ganze Welt aufwecken würde. Zur gleichen Zeit aber konnte ich mir einfach nicht begreiflich machen, dass morgen etwas geschehen würde, dass die Welt noch nicht erlebt hat, dass dieser Leutnant, der da vor uns saß, das Symbol einer neuen Epoche werden würde.“ Gagarin selbst scheint dies nicht zu belasten, er lächelt nur.
Erfolgschance 50:50
Sergej Koroljow dagegen schläft die ganze Nacht nicht. Als Chefingenieur und Verantwortlicher für das gesamte Programm weiß er nur zu gut, was alles schiefgehen kann. Denn eines ist die Wostok-1 ganz sicher nicht: unfehlbar. Allein die Raumkapsel besteht aus 241 Vakuumröhren, mehr als 6.000 Transistoren, 56 Elektromotoren, 800 Relais und Schaltern und mehr als 880 Steckverbindungen. Rund 15 Kilometer Kabel verbinden die Einzelteile miteinander. Die Trägerrakete besitzt zusätzliche 36 Einzelsysteme für Antrieb und Steuerung. Tut nur ein einziges dieser Teile nicht, was es soll, kann dies das Ende für die gesamte Mission und das Leben von Juri Gagarin bedeuten.
Besondere Sorgen bereitet Koroljow die dritte Brennstufe der Trägerrakete, denn wenn sie nicht zündet, landet der Kosmonaut irgendwo im stürmischen Südozean vor Kap Horn. Eine Bergung im „feindlichen Gebiet“ wäre schwer bis unmöglich, zumal die Kapsel nicht für eine Wasserlandung ausgerüstet ist und schnell sinken würde. Immerhin hat Koroljow durchgesetzt, dass es bei diesem Flug keinen Selbstzerstörungsmodus gibt, wie bei den Testflügen. Bei diesen wäre die Kapsel 60 Stunden nach der Landung automatisch explodiert, wenn sie nicht entschärft wird. Gagarin hat allerdings „entsprechende Instruktionen“ erhalten, was er im Falle einer Bergung durch westliche Nationen tun soll. Was das genau bedeutet, ist unbekannt.
Die Chance für einen Erfolg steht vermutlich 50:50, das weiß auch Koroljow. Eigentlich bräuchte es noch viel mehr Tests und vor allem mehr Zeit. Doch die hat er nicht.
Die letzten Minuten
Tjuratam, 12. April 1961. Während die Kosmonauten noch schlafen, beginnen an der Startrampe bereits die letzten Vorbereitungen. Um 06:00 Uhr Moskauer Zeit wird offiziell das „Alles bereit“ verkündet. Kurz vorher sind Gagarin und Titow vom Direktor des Kosmonauten-Zentrums persönlich geweckt worden, haben kurz gefrühstückt und nach einem letzten medizinischen Check geht es nun ans Ankleiden. Zwei Assistenten helfen erst Titow, dann Gagarin in den hellblauen Druckanzug und dann in den orangenen Overall. Gagarin ist keine Anspannung anzumerken, er wirkt heiter.
Um 07:10 Uhr besteigt Gagarin die Raumkapsel, von jetzt an ist sein einziger Kontakt zur Außenwelt das Funkgerät. Weil beim Schließen der Einstiegsluke eine Schraube klemmt, dauert es noch, bis der Countdown anlaufen kann. Koroljow und der Kosmonaut Pavel Popowitsch, der als „Stimme“ der Bodenstation den Kontakt zu Gagarin halten wird, unterhalten sich mit dem Kosmonauten in der Kapsel. Noch immer scheint Gagarin sehr ruhig, sein Puls liegt bei nur 64. Eine Viertelstunde vor dem Start zieht Gagarin seine Handschuhe an, fünf Minuten vorher seinen Helm. Zur gleichen Zeit wird der Zugangsturm von der Rakete zurückgezogen. Koroljow, der bereits einen Herzinfarkt hinter sich hatte, nimmt sicherheitshalber ein Beruhigungsmittel.
Nadja Podbregar