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Welche Funktion haben endogene Retroviren in uns?

Erste elektronenmikroskopische Aufnahme der retroviralen Partikel aus Plazentazellen © PNAS 1978, 75(12): 6263–6267

Das erste Indiz für mögliche Aktivitäten unseres retroviralen Erbes stammt aus den 1970er Jahren, lange vor der Entdeckung der ersten HERVs. Jay Levy und seine Kollegen vom Cancer Research Institute in San Francisco stoßen in Extrakten von menschlichem Plazentagewebe auf Partikel, die in verblüffender Weise Retroviren ähneln. Gleichzeitig registrieren sie eine ungewöhnlich hohe Aktivität eines Enzyms, das die RNA-Replikation katalysiert.

Noch allerdings sind sich die Forscher unsicher darüber, was genau da vorliegt. In ihrer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) schreiben sie 1978: „Ob diese Strukturen eine transplazentale Infektion mit einem Virus repräsentieren oder ob sie endogene Viren sind, die an Entwicklungsprozessen des Wirts beteiligt sind, ist nicht bekannt.“ Welche Entwicklungsprozesse die Autoren hier konkret gemeint haben könnten, zeigt ein Blick in die Vorgänge bei der Plazentabildung:

Fremdling im Mutterleib

Wenn eine Eizelle befruchtet wird und sich auf ihren Weg in die mütterliche Gebärmutter macht, lebt sie gefährlich. Denn im Prinzip ist sie ein Fremdkörper, stammen doch zumindest die Hälfte ihrer Gene nicht von der Mutter sondern vom Vater und damit von einem anderen Menschen. Kritisch wird dieser Status vor allem dann, wenn es um die Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutterschleimhaut geht. „In gewissem Sinne ähnelt der Embryo einem Parasiten: Er muss in das mütterliche Wirtsgewebe eindringen, die Physiologie der Mutter manipulieren und der Entdeckung durch das mütterliche Immunsystem entgehen“, erklärt der Virologe Luis Villarreal.

Entscheidend für den Erfolg dieser Operation ist die Plazenta, ihre Gewebestruktur bildet sowohl nährendes Bindeglied als auch Schutz für den heranwachsenden Embryo. Erreicht wird dies durch die Ausbildung einer speziellen Grenzschicht, dem so genannten Syncytiotrophoblast. In ihm verschmelzen Plazentazellen zu einer von keinem Zellzwischenraum durchbrochenen Schicht, einer Art Riesenzelle mit vielen Zellkernen.

Riesenzelle dank Virenprotein

Und genau diese auch als Syncytium bezeichnete Riesenzelle ist das Rätselhafte an der ganzen Sache, wie Frank Ryan in seinem Buch „Virolution“ erklärt: „Unsere Wirbeltierzellen sind eigentlich nicht imstande, zu einem Syncytium zu verschmelzen.“ Es gibt jedoch andere Organismen, die unsere Zellen dazu bringen können, genau dies zu tun: Retroviren.

Der Syncytiotrophoblast trennt die Kreisläufe von Mutter und Kind. © Historisch (Gray’s Anatomy)

Den Beleg dafür finden Wissenschaftler um John McCoy vom Genetics Institute in Cambridge Massachusetts im Jahr 2000. Sie entdecken ein Protein, von ihnen Syncytin getauft, das den entscheidenden Anstoß zur Verschmelzung der Plazentazellen gibt. Doch das Protein wird nicht von einem unserer eigenen kodierenden Gene produziert, sondern von dem env-Gen eines endogenen Retrovirus, dem HERV-W. Wenig später findet eine andere Arbeitsgruppe ein weiteres Syncytin, das ebenfalls die Verschmelzung unterstützt und zudem eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung der mütterlichen Immunreaktion auf den Embryo spielt. Auch dieses Protein wird von einem retroviralen Gen produziert.

Evolutionssprung durch Virenhife?

Eine der entscheidenden Voraussetzungen für unsere erfolgreiche Fortpflanzung verdanken wir – und alle anderen plazentalen Säugetiere – damit offensichtlich unseren viralen Symbiosepartnern. Denn interessanterweise fehlen den Beuteltieren, die noch keine voll ausgebildete Plazenta besitzen, viele der bei uns präsenten ERVs. „Keines dieser Charakteristiken war schon in Kloakentieren oder Beuteltieren präsent, sie alle scheinen in einem komplexen evolutionären Ereignis erworben worden zu sein“, so Villarreal. „Es erscheint uns daher wahrscheinlich, dass ERVs irgendwie in diese komplexen plazentalen Charakteristiken involviert gewesen sein mussten.“

Für den ERV-Experten ist dies ein weiterer Hinweis darauf, dass endogene Viren als wichtige Triebkräfte der Evolution wirken können. Vielleicht sind sogar sie es, die große Sprünge in der Entwicklung erst ermöglichen. Auffallend ist immerhin, dass sich im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung nicht nur die Komplexität und Anzahl der Merkmale und Fähigkeiten erhöht hat, sondern auch der Anteil der Virengene im Erbgut: „Bei jedem größeren Schritt auf diesem Weg, so etwa bei der Entstehung der Wirbeltiere, der Säugetiere und vor allem der Primaten, war die Anzahl der Retroviren-Stämme geradezu explodiert“, beschreibt Ryan die Entwicklung.

Auch gegenüber dem Schimpansen, unserem nächsten Verwandten, ist ein deutlicher Unterschied in punkto ERV-Ausstattung festzustellen: Wir Menschen tragen rund doppelt so viele retrovirale LINEs im Erbgut wie dieser.

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Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Der „Feind“ in uns
Symbiotische Viren als Triebkräfte unserer Evolution?

Das Buch zum Thema
"Virolution"

Partner statt Gegner
Kann es eine echte Symbiose von Wirt und Virus geben?

Viren als Komplizen
Die Sache mit dem Wespenei

Sprung in die Keimbahn
Das Rätsel der Koala-Seuche

Evolution in Echtzeit
Versuch und Irrtum im Wirtsgenom

Blinde Passagiere in unserem Genom
Die Entdeckung viraler Gene und Genfragmente im menschlichen Erbgut

Mehr Virus als Mensch?
Endogene Retroviren als prägende Elemente im Genom

Geheime Helfer
Welche Funktion haben endogene Retroviren in uns?

Freund und Feind zugleich
Nutzen und Schaden durch HERVs in uns

Rätsel um das „MS-Virus“
Die Rolle der HERVs bei Autoimmunerkrankungen

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