Konstantinopel im Jahr 1714. Die Stadt am Bosporus ist ein quirliges Vielvölkergemisch. 600.000 Menschen drängen sich hier auf engem Raum, wohnen, handeln, arbeiten in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Wie in vielen Ballungsräumen der damaligen Zeit, grassieren auch hier Krankheiten, vor allem die Pocken. Rund jedes zehnte Kind stirbt an dieser schweren Virus-Infektion. In Europa fallen ihr jährlich fast 400.00 Menschen zum Opfer, unzählige weitere überleben zwar, sind aber durch die Narben der Eiterbläschen dauerhaft entstellt. Ein Heilmittel gegen die ansteckende Krankheit gibt es nicht.
Heilsamer Eiter
Doch der osmanische Sultan Achmed III. will das nicht länger hinnehmen. Schon länger haben Reisende aus Asien ihm und seinen Ärzten von einer neuen Methode aus China berichtet. Dort, so berichten sie, sollen einige Ärzte ihren gesunden Patienten absichtlich Krustenstücke von nur leicht erkrankten Pockenpatienten verabreichen – und diese blieben dann nach einer kurzen aber leichten Erkrankung von den tödlichen „Blattern“ verschont. Der Sultan beschließt darauf hin, diese Methode in seiner Stadt zu testen – und lässt den ersten großangelegten Impfversuch der Geschichte durchführen.
Systematisch entnehmen eigens geschulte Ärzte, aber auch Heilerinnen leicht Erkrankten mit einer Nadel ein wenig Eiterflüssigkeit aus den Pockenpusteln. Mit der getränkten Nadel ritzen sie anschließend die Haut eines gesunden Einwohners an Stirn, Wange oder Kinn auf. Und tatsächlich: Es funktioniert: Die so geimpften Männer, Frauen und Kinder reagieren zwar zunächst mit Fieber und manchmal leichtem Ausschlag auf die Behandlung. Dann aber scheinen sie gegen jede weitere Ansteckung mit der tödlichen Krankheit gefeit: Sie erkranken gar nicht oder nur sehr leicht, während andere, nicht geimpfte, nach wie vor an den Pocken sterben. Bis zu 40.000 Menschen werden in Konstantinopel auf diese Weise immunisiert.
Abgelehnt und ausgelacht
Im restlichen Europa allerdings ist man diesen seltsamen Sitten gegenüber misstrauisch. Das bekommt auch Mary Wortley Montagu zu spüren. Die Schriftstellerin und Frau des englischen Botschafters in Konstantinopel lernt während ihrer Zeit in der Stadt am Bosporus die neue Methode des Seuchenschutzes kennen. Von deren Wirksamkeit überzeugt, lässt sie auch ihre Kinder auf diese Weise impfen – und wirbt in Briefen und Berichten auch in ihrer Heimat dafür, doch diese Möglichkeit des Schutzes gegen die tödliche Seuche zu nutzen:
„Die hier entwickelte Impfmethode schützt die Menschen vor schweren Krankheiten. […] Niemand wurde jeher von der Impfung getötet“, berichtet sie in einem Brief an ihre Freundin Sarah Chiswell. „Da ich mein Vaterland so stark liebe will ich die Impfung auch für England.“ Doch ihr Vaterland – und vor allem dessen Ärzteschaft – ist dafür noch nicht bereit: Lady Montagus Idee wird abgelehnt und verlacht. Zwar lassen sich einzelne trotzdem impfen, aber das Ganze erweist sich als zu riskant: Viele Geimpfte erkranken und übertragen dabei die Krankheit auch an Ungeimpfte, die daraufhin schwer erkranken und sterben.
Nadja Podbregar
Stand: 19.07.2013