Die KORA-Forscher verweisen auf eine weitere Schwachstelle mancher Studien: Sie dauern zu lang. Der Zählappell misslingt, weil sich die Population während der Feldforschung durch Wanderungsbewegungen sowie Geburt und Todesfälle, die sich saisonal häufen, verändert. Die Schweizer Forscher hatten daher ihre Luchse nur zwei Wintermonate lang gezählt – eine Jahreszeit, in der weder Junge geboren werden, noch Halbwüchsige neue Reviere erobern.
Für weitere Luchsstudien raten die KORA-Forscher, das Untersuchungsgebiet so weit zu spannen, dass mehr als 20 Luchse darin ihr Revier haben. Nur so könne man später verlässlich ermitteln, ob die Population wächst oder schrumpft. Laut der letzten Schätzung von 2011 leben in der Schweiz 158 erwachsene oder halbwüchsige Luchse, davon 51 im Jura und 107 in den Alpen. „Etwas über einen Trend zu sagen, ist schwierig“, sagt Zimmermann. Dazu brauche es erst Vergleichszahlen über mindestens fünf Jahre.
Auch Katzen wählen den einfachsten Weg
Ein haargenaues Abbild der Wirklichkeit liefern die bisher eingesetzten SCR-Modelle aber auch nicht. Das soll sich ändern. Forscher des US-amerikanischen USGS Patuxent Wildlife Research Center in Laurel haben 2013 das Modell in der Theorie weiter verfeinert. Entscheidende Ergänzung: Die Landschaftsstruktur und damit die bevorzugten Laufwege der Tiere werden bei der Auswertung der Kamerafallen berücksichtigt.
Denn auch Raubkatzen tendieren auf ihren Streifzügen dazu, den „Weg des geringsten Widerstandes“ zu gehen. Das KORA-Team hatte für seine Untersuchung daher die Kameras bevorzugt an Forststraßen und Wanderpfaden installiert, die Luchse gerne nutzen. Indem die Forscher entlang der Wege von und zu den Fotofallen den Schnee platttraten und so für den Luchs Trampelpfade schufen, erhöhten sie die Chancen auf Luchsfotos.
Bislang gehen die meisten SCR-Modelle noch davon aus, dass Reviere und Pfade der Raubkatzen symmetrisch und unbeeinflusst von der Landschaft sind. In die Listen mit Bestandsschätzungen seltener Tierarten könnte mit den Erkenntnissen aus Maryland erneut Bewegung kommen.
Weniger Jaguare als gezählt
Dass Raubkatzen-Populationen seit Jahren mitunter viel zu hoch geschätzt werden, wiesen zuletzt auch der Schweizer Ökologe Mathias Tobler vom San Diego Zoo und der Washingtoner WWF-Wissenschaftler George Powell nach, und zwar am Jaguar – allerdings im Gegensatz zur KORA-Studie am Schreibtisch. Das Duo prüfte 74 verschiedene zuvor erschienene Studien zu den lateinamerikanischen Jaguar-Beständen auf Herz und Nieren und unterwarf dabei alle Daten dem SCR-Modell.
Das Ergebnis: Die meist zu klein gewählten Untersuchungsgebiete provozierten viel zu hohe Jaguar-Bestände. Das Fazit des Forscherduos: „Nach mehr als einem Jahrzehnt Jaguar-Forschung mit Kamerafallen ist unser Wissen über die wahre Bestandsdichte vom Jaguar in seinen verschiedenen Lebensräumen leider weiterhin dürftig.“
Kai Althoetmar
Stand: 25.07.2014