Als Grundlage des Projektes „Inseln der Winde“ dient eine systematische und diachron angelegte Untersuchung des minoischen Seewesens. Als Glücksfall erweist sich hier die ungebrochene Tradition der Schiffsdarstellungen über einen Zeitraum von circa 1600 Jahren, welche die gesamte Entwicklungsgeschichte des minoischen Schiffbaus überliefert.
Aussagekräftige Darstellungen und Tonmodelle
Die analytische Durchdringung und Rekonstruktion des relevanten Bildmaterials im Rahmen unseres Projektes umfasst drei verschiedene Schritte: Am Ausgangspunkt unserer Untersuchung steht eine Auswahl von aussagekräftigen Bilddarstellungen und Tonmodellen minoischer Schiffe. Eine systematische Auswertung dieser Bilder, ihrer Träger, ihres sozialen Kontextes und ihrer Entstehungsbedingungen zielt darauf, den möglichen Einfluss von bildlichen Konventionen aufzuzeigen, die zu einer vereinfachten, verzerrten oder sogar falschen Darstellung der realen Vorlage führen.
Die ausgewählten Bilder sind die Grundlage für das Erstellen digitaler zwei- beziehungsweise dreidimensionaler Zeichnungen, die sich für eine nähere Untersuchung der Konstruktionstechnik, Maße und Antriebsart der Schiffe als nützlich erweisen. Die digitalen Zeichnungen wollen ein von ikonographischen Konventionen und Ungenauigkeiten bereinigtes Bild minoischer Schiffe bieten.
Modellnachbildungen von verschiedenen Schiffstypen
In einem dritten Schritt werden Modellnachbildungen von verschiedenen Schiffstypen im Maßstab 1:10 gefertigt. Sie machen es möglich, die Fahrtüchtigkeit der Schiffe unter realen Bedingungen zu testen. Dadurch lassen sich zum ersten Mal Fragen nach Größe und Form, nach Konstruktionsdetails und technischen Eigenschaften eingehend untersuchen.
Die exakte Rekonstruktion von Rumpf, Bug, Heck, Deck, Mast beziehungsweise Takelage, Segel, Rudern, Anker und Kochstelle erlaubt eine sehr konkrete Vorstellung von Geschwindigkeit, Antriebsart und Manövrierbarkeit des Schiffes und bietet einen Einblick in den Alltag der Matrosen auf offenem Meer. Durch die ersten Ergebnisse der zwei- und dreidimensionalen Rekonstruktionsversuche lässt sich die Entwicklungsgeschichte des minoischen beziehungsweise ägäischen Schiffbaus wesentlich konkreter fassen, als dies bei den älteren Versuchen der Fall war. Eine entscheidende Rolle spielen dabei ethnologische Vergleiche, insbesondere aus dem Mündungsgebiet des Gambia-River in Westafrika, welche die komplette Entwicklungslinie vom Einbaum bis zum Plankenschiff lückenlos dokumentieren.
Einbaum kam zuerst
Am Anfang steht der Einbaum, dessen Innenraum in einem ersten Schritt mit aufgesetzten Brettern erhöht wird. Im nächsten Entwicklungsschritt wird die Anzahl der Planken erhöht, der Kiel gekrümmt und ein Segel verwendet. Im letzten Entwicklungsschritt wird die Konstruktion vergrößert und entsprechend optimiert. Die Gestaltung des Rumpfs erfolgt in allen Kulturen ohne formgebende Rippen. Die hier beschriebene Entwicklung vom Einbaum zum Plankenschiff fand in vielen anderen Regionen voneinander unabhängig statt. So werden heute noch Boote und Schiffe mit diesem Entwicklungshintergrund in Westafrika in Indonesien, Thailand, Neuguinea und Ozeanien gebaut und genutzt.
Thomas Guttandin, Diamantis Panagiotopoulos und Gerhard Plath / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 12.10.2011