Es prickelt merkwürdig, wenn der Strom in die Haut fließt, als blubberte Mineralwasser im Unterarm. Es ist ein eigenartiges Gefühl, die flache Elektrode auf der Haut kleben zu sehen und nicht zu wissen, wie stark das Kribbeln noch wird. Doch das erwartete Pieken bleibt aus. Man braucht nicht viel Strom, um Muskeln in Bewegung zu versetzen: Erst heben sich die Finger, dann der Handballen. Dann schwebt die ganze Hand über der Tischplatte. Sie hebt und senkt sich mit dem An- und Abschwellen des Stroms. Ganz von allein, geisterhaft.
Riesendreirad für Erwachsene
Thomas Schauer ist ein Meister darin, Muskeln wohldosiert fernzusteuern. Er bringt Querschnittgelähmte dazu, Fahrrad zu fahren, und hilft Schlaganfallpatienten, das Gehen neu zu lernen. In seinem Labor steht ein Riesendreirad für Erwachsene, im Nachbarraum ein Ergometer, aus dem Kabel heraushängen. Die enden in kleinen grauen Kästen mit Drehreglern und an Elektroden, die man wie Pflaster auf die Haut klebt.
Schauers Spezialität ist die Elektrostimulation. Worum es sich dabei handelt, zeigt er seinen Besuchern für gewöhnlich mit dem Schwebende-Hand-Versuch. Natürlich gibt es die Elektrostimulation schon länger. Schon in den 1960er-Jahren hatten Forscher versucht, Schlaganfallpatienten mit kleinen Stromstößen das Gehen zu erleichtern. Doch bis vor wenigen Jahren blieb es beim simplen „Strom an, Strom aus“. Unvorstellbar, die Stromreizung individuell an den Patienten oder ganz flexibel an die Situation anzupassen. Schauer erreicht genau das mit einer Art ausgeklügelter Computer-Regelung.
Der Muskel als Teil technischer Regelkreise
Die Technik des Elektroingenieurs, der sich auf die Regelungstechnik spezialisiert hat, reizt den Muskel nicht stumpf. Sein Computer misst, wie stark der Muskel anspricht, wie kraftvoll das Bein schwingt oder der Fuß auf den Boden drückt. Darauf reagiert wiederum das System: Es passt die nächsten Strompulse an die Muskelarbeit an, sodass eine fließende Bewegung entsteht. Schauer macht den Muskel zum Bestandteil technischer Regelkreise. Zusammen mit seinem Chef Jörg Raisch, dessen Arbeitsgruppe Regelungstechnik sich auf das Magdeburger Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme und die Technische Universität Berlin verteilt, hat er in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht.
Alles begann mit der Idee, Querschnittgelähmten das Radfahren beizubringen. Damals hatte ihn ein Professor für die Promotion an die Universität Glasgow geholt – in eine neue Arbeitsgruppe mit dem Schwerpunkt „Funktionelle Elektrostimulation“. Bei Querschnittgelähmten ist die Reizleitung der Nerven zu den Muskeln unterbrochen. Die Muskeln und die sie reizenden Nerven funktionieren noch, aber die Funkverbindung zum Gehirn reißt ab. „Wir hatten uns damals überlegt, dass es möglich sein müsste, durch gezielte Regelung eine harmonische Tretbewegung zu erzeugen“, sagt der Forscher.
Schauer und seine Kollegen befestigten die Füße der Patienten mit Spezialschuhen an den Pedalen und klebten ihnen Elektroden auf die Beine – auf die Kniebeuger, die Knie- und die Hüftstrecker. Dann fütterten sie ihr Rechenprogramm mit Informationen über die Stellung der Pedale. Es dauerte Monate, bis die Software so sauber arbeitete, dass alles ideal zusammenspielte. Dann klappte es.
Wieder aus eigener Kraft Radfahren
Von einem Laptop auf dem Gepäckträger aus schickte die Software Befehle an die kleine Bordbatterie und den Elektrostimulator, Strompulse abzufeuern. Immer, wenn sich ein Pedal über den höchsten Kurbelpunkt bewegte, wurden die Elektroden am Kniestrecker aktiviert. Der Muskel kontrahierte. Sobald sich das Bein voll streckte, bekam der Kniebeuger den Startbefehl und zog die Pedale wieder an.
Tatsächlich, am Ende beschrieb das Bein eine perfekte Drehbewegung. Ganz ohne Motor radelten die querschnittgelähmten Patienten mit dem Spezial-Dreirad dahin. „Für die Leute war es ein tolles Gefühl von Freiheit, aus eigener Kraft Rad zu fahren“, sagt Schauer.
Tim Schröder / MaxPlanckForschung
Stand: 29.07.2011