Überraschende Entdeckung: Möglicherweise gibt es in unseren Arm- und Beinknochen ein verborgenes Netzwerk winziger Blutgefäße. Darauf deutet nun die Entdeckung eines solchen Gefäßnetzwerks in den Beinknochen von Mäusen hin. Dieses Kanalsystem könnte erklären, warum sich ins Knochenmark injizierte Medikamente so schnell im Körper verteilen. Zudem scheint es eine bedeutende Rolle für den Transport von Immunzellen zu spielen. Ob diese Gefäße allerdings auch in menschlichem Knochengewebe vorkommen, müssen weitere Untersuchungen erst noch bestätigen.
Im Notfall kommt es auf jede Sekunde an. Gelingt es Medizinern in einer solchen Situation nicht sofort, einen Venenzugang zu legen, wenden sie einen Trick an: Sie injizieren das möglicherweise lebensrettende Medikamente direkt in den Beinknochen des Patienten. Denn aus dem Knochenmark gelangen Wirkstoffe relativ schnell ins Blutkreislauf-System und verteilen sich dann über den gesamten Organismus.
Obwohl aus der Praxis seit Jahren bekannt, ist dieses Phänomen noch immer rätselhaft. So wissen Forscher zwar, dass sogenannte Röhrenknochen wie das Schienbein über Arterien an den Knochenenden verfügen und sowohl im Knochenmark als auch an ihrer Außenseite einige Blutgefäße besitzen. Dies kann jedoch nicht erklären, warum Notfallinfusionen ins Knochenmark eine derart schnelle Wirkung entfalten. „Wie jedes Organ benötigt ein Knochen für diese Funktion einen geschlossenen Blutkreislauf. Wie dieser geschlossene Blutkreislauf von Röhrenknochen genau aussieht, war bisher noch nicht ganz klar“, erklärt Anika Grüneboom von der Universität Duisburg-Essen.
Netzwerk aus winzigen Gefäßen
Auf der Suche nach einer Erklärung haben die Wissenschaftlerin und ihre Kollegen nun die Schienbeine von Mäusen durchleuchtet. Mithilfe moderner bildgebender Verfahren wie der Lichtscheiben-Fluoreszenzmikroskopie (LSFM) konnten sie erstmals einen detaillierten Blick auf das Innere der Knochen werfen – und entdeckten Überraschendes: ein Netzwerk aus hunderten winzigen Blutgefäßen.
Diese Transkortikalgefäße getauften Kapillaren verlaufen auf der gesamten Länge quer durch den kompakten Knochen, die sogenannte Kortikalis. Dabei stellen sie eine direkte Verbindung zwischen dem Knochenmark und den Blutgefäßen in der äußeren Knochenhaut dar, wie die Forscher berichten. Ihren Berechnungen zufolge fließt ein Großteil sowohl des arteriellen als auch des venösen Blutes, das die Knochen passiert, genau durch dieses Geflecht aus Gefäßen.
Schnellstraße für Immunzellen
Zumindest bei Mäusen scheinen die kleinen Strukturen demnach ein zentraler Bestandteil des Kreislaufsystems zu sein. Zudem offenbarten weitere Experimente, dass die Blutgefäße auch eine wichtige Rolle für den schnellen Transport von Immunzellen aus dem Knochenmark zu Entzündungsherden spielen. Im Versuch mit Mäusen stellten die Forscher sogar fest, dass sich im Zuge entzündlicher Erkrankungen wie der chronischen Arthritis innerhalb weniger Wochen neue Transkortikalgefäße entwickeln können. Womöglich erleichtere dies den kontinuierlichen Transport von Neutrophilen und anderen Immunzellen aus dem Knochenmark in die Gelenke, schreibt das Team.
„Die bisherigen Konzepte beschrieben lediglich einige wenige arterielle Zuflüsse und zwei venöse Abflüsse bei Knochen. Das ist vollkommen unvollständig und spiegelt die natürliche Situation überhaupt nicht wider. Es ist schon erstaunlich, dass man im 21. Jahrhundert noch neue anatomische Strukturen finden kann, die in keinem Lehrbuch beschrieben werden“, konstatiert Mitautor Matthias Gunzer.
Auch beim Menschen?
Ob sich dieses bisher übersehene Transportnetzwerk auch in unseren Röhrenknochen findet, ist noch unklar. Zwar identifizierten die Wissenschaftler in einigen Bereichen menschlicher Knochen ebenfalls ähnliche Strukturen. Außerdem wurden kürzlich auch im menschlichen Schädel zuvor unerkannte, feine Kanälchen entdeckt. Weitere Untersuchungen müssen jedoch erst verifizieren, dass es sich bei den nun entdeckten Strukturen tatsächlich um Transkortikalgefäße handelt.
„Bestätigt sich dieser Verdacht, wird dies ohne Zweifel wichtige Auswirkungen haben“, schreiben die Mediziner Christopher Ritchlin und Iannis Adamopoulos in einem Kommentar zu der Studie. So würde die Entdeckung nicht nur ein besseres Verständnis der menschlichen Knochenanatomie bedeuten – sie könnte darüber hinaus auch neue Erkenntnisse über Erkrankungen wie Arthritis und Osteoporose liefern und möglicherweise Ansätze für neue Therapien eröffnen, so die Hoffnung. (Nature Metabolism, 2019; doi: 10.1038/s42255-018-0016-5)
Quelle: Nature Press/ Universität Duisburg-Essen