Stereotyper als gedacht: Das Gehirn von Frauen und Männern ist doch unterschiedlicher als gedacht, wie nun eine Studie enthüllt. Demnach haben Frauen mehr graue Hirnsubstanz unter anderem im Stirnhirn und im Scheitellappen, Männer dagegen haben mehr Volumen in einigen hinteren und seitlichen Arealen des Cortex, darunter auch dem primären Sehzentrum. Passend zu diesem Muster gibt es auch Unterschiede bei der Genexpression der Geschlechtschromosomen in den Hirnarealen.
Wie weit reichen die biologischen Unterschiede von Mann und Frau? Klar scheint, dass es abseits von gesellschaftlichen Einflüssen durchaus Unterschiede im Verhalten, der Kognition und auch der Gesundheit zu geben scheint. So verhalten sich schon Neugeborene leicht unterschiedlich, das weibliche Gehirn ist im Schnitt aktiver und verarbeitet soziale Informationen anders als das männliche. Zudem treten beispielsweise Autismus oder Parkinson beim männlichen Geschlecht häufiger auf, dafür leiden Frauen häufiger unter Depressionen.
Gibt es „das“ männliche oder weibliche Gehirn?
Strittig ist aber, ob hinter diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden auch klare morphologische Merkmale stehen: Gibt es „das“ männliche oder weibliche Gehirn überhaupt? Während einige Studien durchaus Indizien für solche Differenzen aufgespürt haben – unter anderem in der Vernetzung – sehen andere im weiblichen und männlichen Gehirn nur einen Mythos. Die Überlappungen seien einfach zu groß.
Um dies zu klären, haben nun Forscher des National Institute of Mental Health in Bethesda noch einmal eine großangelegte Suche nach morphologischen Geschlechtsunterschieden in unserem Denkorgan unternommen. Dafür werteten die Forscher die Hirnscans von 976 erwachsenen Männern und Frauen aus, deren Gehirnmorphologie und -aktivität im Rahmen des Human Connectome Project (HCP) untersucht worden war. Sie verglichen dabei im Speziellen das Volumen verschiedener Areale der grauen Hirnsubstanz im Cortex.
Lokale Unterschiede der grauen Hirnsubstanz
Sie wurden fündig: „Wir stellen fest, dass das erwachsene Gehirn ein stereotypes Muster von regionalen Geschlechtsunterschieden in der grauen Hirnsubstanz aufweist“, so die Wissenschaftler. Konkret ist das Volumen der grauen Hirnsubstanz bei Frauen in Teilen des präfrontalen Cortex, im darüberliegenden orbitofrontalen Cortex sowie in Teilen des Scheitel- und Schläfenhirns höher. Bei Männern ist die Hirnrinde dagegen im hinteren Teil des Gehirns dicker, darunter auch im primären Sehzentrum.
Dabei lassen sich übergeordnete funktionale Muster erkennen: „Die Regionen, in denen das Volumen der grauen Hirnsubstanz bei Männern größer ist, sind meist an der Objekterkennung und der Verarbeitung von Gesichtern beteiligt“, berichten Raznahan und seine Kollegen. „Die bei Frauen ausgeprägteren cortikalen Regionen sind dagegen mit der Kontrolle von Aufgaben, der Impulskontrolle und der Verarbeitung von Konflikten verknüpft.“
Unterschiede auch in der Genexpression
Doch worauf beruhen diese Volumenunterschiede? Bei Mäusen haben Studien bereits gezeigt, dass diese lokalen Differenzen auch mit einer geschlechtsspezifischen Genexpression zusammenhängen. Ob dies auch beim Menschen so ist, haben Raznahan und sein Team anhand von Vergleichen mit Karten der Genexpression für 1317 Hirngewebeproben von sechs verstorbenen Spendern überprüft.
Das Ergebnis: Auch bei der Aktivität der Gene in den Gehirnzellen gab es ein deutliches Muster. „Die kortikalen Regionen mit relativ hoher Expression der Geschlechtschromosomen liegen in den Bereichen, die bei Männern ein höheres Volumen aufweisen als bei Frauen“, berichten die Forscher. Die Regionen, in denen die graue Hirnsubstanz bei Frauen dicker war, zeigten dagegen eine geringere Aktivität der X- und Y-Chromosomen.
„Umweltfaktoren nicht die Haupttriebkraft“
Zusammengenommen sehen Raznahan und sein Team diese Ergebnisse als Beleg dafür, dass das Gehirn von Männern und Frauen sich anatomisch durchaus unterscheidet – und dass diese regionalen Differenzen eng mit der Aktivität der Geschlechtschromosomen verknüpft sind. Ihrer Ansicht nach müssen diese geschlechtsspezifischen Unterschiede zudem zumindest zum Teil angeboren sein.
„Wir glauben nicht, dass Umweltfaktoren die Haupttriebkraft für diese hochgradig reproduzierbaren Muster im Volumen der grauen Hirnsubstanz sind“, konstatieren die Forscher. In welchem Maße und auch welche Weise die jetzt beobachteten Unterschiede aber mit geschlechtsspezifischen Differenzen im Verhalten, der Kognition oder der mentalen Gesundheit verknüpft sind, müsse erst noch erforscht werden. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnase.1919091117)
Quelle: NIH/ National Institute of Mental Health