Ein anatomisches Teilgebiet, in dem in den letzten Jahren gleich mehrere neue Strukturen entdeckt wurden, sind die Leitungssystem unseres Körpers – die Bahnen und Verbindungswege, über die Gewebe und Organe mit verschiedensten Substanzen versorgt werden. Weil diese Netzwerke bei der Präparation von Geweben meist zerstört werden, blieben sie jahrhundertelang unerkannt.
Abwasserkanäle in unserem Gehirn
Eines dieser neuentdeckten Leitungssysteme sitzt in unserem Gehirn. Lange dachte man, dass die Abfallstoffe unseres Denkorgans passiv mit dem Hirnwasser entsorgt werden. Sie diffundieren mit ihm in die Hirnvenen und werden dann mit dem Blut abtransportiert – so die Lehrmeinung. Doch 2012 entdeckten Maiken Nedergaard von der University of Rochester und ihr Team, dass es im Gehirn doch ein ganzes Netz von Lymphbahnen gibt – das glymphatische System.
Gebildet werden diese Kanäle durch die Ausläufer neuronaler Stützzellen, Astrozyten, die sich um die Hirnarterien winden. Dadurch entsteht um die Adern ein Hohlraum, über den die Hirnflüssigkeit aktiv aus dem Hirngewebe gepumpt und in die Adern gepresst wird. „Das ist ein hydraulisches System. Wenn man es öffnet, wird es unterbrochen und funktioniert nicht mehr“, erklärt Nedergaard. Deshalb haben sie und ihr Team diese aktive Abwasserentsorgung des Gehirns erst entdeckt, als sie die Gehirne lebender Mäuse mit der Zwei-Photonen-Mikroskopie untersuchten. Diese machte den Fluss des mit einem Kontrastmittel markierten Hirnwassers sichtbar.
Ebenfalls im Schädel haben Mediziner der Harvard University im Jahr 2018 feine Knochenkanälchen entdeckt. Diese ziehen vom Mark des Schädelknochens bis an die harte Hirnhaut und bilden offenbar eine Abkürzung für ins Gehirn einwandernde Immunzellen. „Offenbar haben sie eine ganz andere Rolle als gewöhnliche Gefäße“, erklärt Mathias Nahrendorf. „Sie scheinen als direkte Leitungen für die Kommunikation zwischen dem zentralen Nervensystem und dem Knochenmark zu dienen.“
Ein Netzwerk flüssigkeitsgefüllter Stoßdämpfer
Ein noch größeres, im gesamten Körper vorhandenes Leitungsnetz betrat auch 2018 die anatomische Bühne. Dieses Netzwerk liegt dort, wo Anatomen jahrhundertelang nur festes Bindegewebe vermuteten: Im sogenannten Interstitium unter der Haut, in der Umkleidung der inneren Organe und Blutgefäße und an den Faszien zwischen unseren Muskeln. Wie man nun weiß, ist dieses Gewebe von einem Netzwerk aus winzigen Kanälchen durchzogen, die von Kollagen und Elastan stabilisiert werden und mit Zellen ausgekleidet sind.
Entdeckt haben Neil Theise von der New York University und sein Team dieses Leitungsnetz im Interstitium durch einen Zufall: Als sie die Gallengänge von Krebspatienten mithilfe eines lasergestützten Endomikroskopie-Verfahrens untersuchten, fielen ihnen die kleinen, flüssigkeitsgefüllten Hohlräume auf. Weitere Analysen enthüllten, dass es solche Hohlräume fast im ganzen Körper vorkommen – überall dort, wo Gewebe sich bewegt, zusammengedrückt wird oder pulsiert. „Wir glauben, dass diese Struktur wie ein Stoßdämpfer wirkt und das Gewebe schützt“, sagt Theise.
Verborgene Adernetze in unseren Knochen
Und auch in unseren Arm- und Beinknochen haben Forscher Anfang 2019 etwas Neues entdeckt. Demnach ist die harte Außenschicht dieser Knochen, die sogenannte Kortikalis, von einem Netzwerk feinster Blutgefäße durchzogen. Diese Transkortikalgefäße getauften Kapillaren durchqueren den kompakten Knochen und verbinden das Knochenmark mit den Blutgefäßen in der äußeren Knochenhaut. Sie könnten erklären, warum sich ins Knochenmark injizierte Medikamente so schnell im Körper verteilen. Zudem scheint dieses Gefäßnetz eine bedeutende Rolle für den Transport von Immunzellen zu spielen.
„Die bisherigen Konzepte beschrieben lediglich einige wenige arterielle Zuflüsse und zwei venöse Abflüsse bei Knochen. Es ist schon erstaunlich, dass man im 21. Jahrhundert noch neue anatomische Strukturen finden kann, die in keinem Lehrbuch beschrieben werden“, sagt Studienleiter Matthias Gunzer von der Universität Duisburg-Essen.