Risiko-Verschiebung: Wenn das Coronavirus SARS-CoV-2 bei uns endemisch wird, könnte sich die Pandemie in zweifacher Hinsicht verändern: Zum einen werden schwere Covid-19-Verläufe seltener, weil die Erwachsenen durch Impfung oder Vorinfektion immunisiert sind. Zum anderen aber wären künftig vorwiegend Kinder betroffen – Covid-19 könnte zur Kinderkrankheit werden, wie Modellsimulationen nahelegen. SARS-CoV-2 würde sich damit ähnlich entwickeln wie das Erkältungs-Coronavirus OC43.
Bisher ist die Corona-Pandemie in ihrer akuten Phase: Weil das Coronavirus SARS-CoV-2 neu aus dem Tierreich auf den Menschen übergesprungen ist, besaß unsere Spezies keinen Immunschutz gegen diesen Erreger. Dadurch konnte sich das Virus weitgehend ungehindert über die Welt verbreiten. Doch im Verlauf der Pandemie ändert sich dies: Immer mehr Menschen sind entweder geimpft oder haben eine Infektion überstanden. Dadurch ist ihr Immunsystem besser gewappnet.
Vom tödlichen Pandemie-Erreger zum endemischen Virus
Was aber bedeutet dies für die Zukunft der Corona-Pandemie? Klar scheint, dass uns SARS-CoV-2 noch länger begleiten wird und wohl nicht von selbst wieder verschwindet – das Coronavirus könnte endemisch werden. Von früheren Epidemie weiß man, dass die Erreger dabei meist weniger pathogen werden: Weil viele Menschen schon vorimmunisiert sind, verursacht das Virus keine tödlichen Erkrankungen mehr, sondern beispielsweise nur noch eine Erkältung.
Ein Beispiel für den Wandel eines Erregers vom Pandemie-Auslöser zum harmlosen Begleiter könnte die sogenannte Russische Grippe sein, eine Pandemie im Jahr 1889/1890, an der rund eine Million Menschen starben. Einigen Studien zufolge wurde diese Pandemie nicht von der Influenza, sondern vom damals neu auf den Menschen übergesprungenen Coronavirus HCoV-OC43 verursacht. Dieses Coronavirus ist noch heute im Umlauf, richtet aber keinen Schaden mehr an: „Dieses Virus ist inzwischen zu einem endemischen Erreger geworden, der milde, wiederkehrende Erkältungen hervorruft“, erklären Ruiyun Li von der Universität Oslo und seine Kollegen
Eine Frage des Alters?
Könnte es beim aktuellen Coronavirus SARS-CoV-2 ähnlich laufen? Und welche Bevölkerungsgruppen wären dann noch durch eine Infektion gefährdet? Diese Fragen haben Li und seine Kollegen nun in einer Modellsimulation untersucht. In dieser variierten sie die Dauer der durch Infektion oder Impfung erworbenen Immunität – wenige Monate oder lebenslang, ob der Immunschutz nur schwere Verläufe oder eine Infektion verhindert und die Altersverteilung der Modellbevölkerung.
„Historische Aufzeichnungen zeigen, dass sich die altersspezifischen Muster einer frischen Epidemie sehr von vom endemischen Stadium unterscheiden können“, erklärt Lis Kollege Ottar Bjørnstad. Bei HCoV-OC43 beispielsweise erkrankten in der Pandemie-Phase vor allem Ältere schwer und starben daran. Heute sind es vor allem Kleinkinder, die stärker unter der von diesem Virus ausgelösten Erkältung leiden.
In ihren Modell simulierten die Forschenden die Entwicklung der Covid-19-Fälle über die nächsten 20 Jahre hinweg. Als Grundlage für die Demografie ihrer Modellbevölkerungen nahmen sie Daten von elf verschiedenen Ländern, darunter neben Deutschland, Frankreich und Italien auch China, Brasilien oder Südafrika.
Verschiebung der Krankheitslast auf die Kinder
Das Ergebnis: Das aktuelle Coronavirus könnte es seinem Vorgänger OC43 nachtun. „Unsere Modellierung deutet darauf hin, dass das Infektionsrisiko sich auf jüngere Kinder verlagern wird, wenn die Erwachsenen entweder durch Impfung oder überstandene Infektion immun geworden sind“, berichtet Bjørnstad. An Covid-19 erkranken würden dann vorwiegend diejenigen, die noch keinen Kontakt mit dem Virus hatten – und das sind wie bei OC43 die kleinen Kinder.
Diese Verschiebung beobachtete das Forschungsteam am deutlichsten in den Modellen mit einer langanhaltenden Schutzwirkung von Impfungen oder Infektionen. Der Wandel zu einer Kinderkrankheit zeigte sich aber auch dann, wenn die Immunisierung so weit nachlässt, dass sie zwar keine Re-Infektionen mehr verhindert, aber die Schwere von Covid-19 bei erneuter Ansteckung senkt. Auch dann würden in Zukunft Kinder die Hauptlast der Erkrankungen tragen, denn ihnen fehlt dieser Schutz.
Insgesamt weniger schwere Verläufe
Im Moment deutet einiges darauf hin, dass das zweite Szenario zutreffen wird. Denn Studien legen nahe, dass der Immunschutz gegen SARS-CoV-2 nicht lebenslang anhält, sondern nach einigen Monaten nachlässt. Allerdings sprechen die bisher beobachteten Fälle von Re-Infektionen und Impf-Durchbrüchen dafür, dass Covid-19 dann deutlich milder verläuft. Ähnliches legt der Vergleich mit den Erkältungs-Coronaviren nahe: Auch bei diesen schützt eine Vorinfektion nicht lange gegen erneute Ansteckung, hinterlässt aber trotzdem eine gewisse Grundimmunität.
Insgesamt legen diese Resultate nahe, dass Sars-CoV-2 im Laufe der Zeit zu einer Kinderkrankheit werden könnte. Gleichzeitig wird eine Infektion mit diesem Coronavirus wahrscheinlich deutlich seltener zu schweren Verläufen von Covid-19 oder Todesfällen führen. Denn die älteren Menschen sind durch frühere Infektionen oder Impfung geschützt, Kinder dagegen erkranken auch bei der Erstinfektion nur sehr selten schwer an Covid-19. (Science Advances, 2021; doi: 10.1126/sciadv.abf9040)
Quelle: Pennsylvania State University