Fast 50 Jahre lang haben Physiker in aller Welt nach dem Higgs-Boson gesucht, bevor sie es dann im Jahr 2012 endlich nachweisen konnten. Was aber machte die Fahndung nach diesem noch fehlenden Teilchen des Standardmodells so schwierig?
Wo verbirgt sich das Higgs?
Das Problem: Ausgerechnet die für den experimentellen Nachweis des Higgs-Bosons entscheidende Eigenschaft ging nicht aus den Theorien hervor. Nach diesen müsste dieses Teilchen weder Spin noch Ladung besitzen, wohl aber eine Masse. Doch wie groß diese war, blieb unklar. Die mögliche Spanne reichte von nur 18 Megaelektronenvolt bis zu 800 Gigaelektronenvolt. In Elektronenvolt wird die Energie angegeben, die man für die Beschleunigung eines Teilchens benötigt. Dies beschreibt auch die Masse eines Elementarteilchens.
Für die Fahndung nach einem Teilchen bedeutet dies: Wenn man die Masse kennt, weiß man auch, mit welchen Energien man Partikel aufeinander schießen muss, um bei einer Kollision das gesuchte Teilchen zu produzieren. Im Falle des Higgs-Bosons tappten die Physiker jedoch im Dunklen und konnten mit Teilchenbeschleunigern zudem nur Kollisionsenergien bis zu einer gewissen Grenze erzeugen. Immerhin hatten diese Versuche bereits ergeben, dass das Higgs-Boson wahrscheinlich schwerer als 114 Gigaelektronenvolt sein müsste.
Wie findet man einen Heuhalm im Heuhaufen?
Als dann 2008 der Large Hadron Collider (LHC) am Forschungszentrum CERN bei Genf in Betrieb ging, bekam die Suche nach dem Higgs-Boson den entscheidenden Schub. Denn dieser größte Teilchenbeschleuniger der Welt bot mit seinen energiereichen Protonenkollisionen beste Voraussetzungen, um das gesuchte Teilchen endlich zu finden. „Sollte das Universum die vom Standardmodell vorhergesagte Version des Higgs-Mechanismus nutzen, dann konnte sich dieser nicht mehr verstecken, nachdem der LHC einmal angelaufen war“, erklärt der CERN-Physiker Matthew McCullough.
Allerdings: Das Higgs-Boson entsteht nur bei etwa jeder Milliardsten Protonenkollisionen und es hat eine extrem kurze Lebensdauer: Es zerfällt schon nach weniger als einer Trilliardstel Sekunde wieder. Es kann daher nicht direkt gemessen oder beobachtet werden. Aufspüren kann man es nur anhand der Zerfallsprodukte, die es hinterlässt. Leider bestehen diese aber aus Elementarteilchen wie Photonenpaaren, Myonen oder Z-Bosonen, die auch bei Zerfällen der unzähligen anderen Kollisionsprodukte freigesetzt werden.
Die Signatur des Higgs-Bosons inmitten dieser Millionen Teilchen zu identifizieren, gleicht daher eher der Suche nach einem bestimmten Heuhalm im Heuhaufen als der Fahndung nach der berühmten Nadel. Möglich wird diese scheinbar unlösbare Aufgabe aber, indem man gezielt vergleicht, welche auf schon bekannten Prozessen beruhenden Zerfallsprodukte die Detektoren finden müssten, und dann schaut, ob es in einem Massen- und Energiebereich Abweichungen von dieser erwarteten Kurve gibt. Ist das Higgs-Boson mit im Spiel, müsste sich dies in einem winzigen Überschuss der aus ihm entstehenden Zerfallsprodukte äußern.
Ein Buckel in den Kurven
Genau das zeigte sich im LHC – an gleich zwei der großen Detektoren: Am 4. Juli 2012 traten die Sprecher der ATLAS- und CMS-Kollaboration vor die Weltöffentlichkeit und verkündeten das lange ersehnte Ergebnis: An beiden Detektoren hatte man unabhängig voneinander das eindeutige Signal des Higgs-Bosons entdeckt. Nachweisbar war dies jeweils an einem „Buckel“ in der Kurve der Zerfallsprodukte, erzeugt von den beim Higgs-Zerfall freigesetzten Photonenpaaren beziehungsweise Z-Bosonen.
Beide Ergebnisse erreichten eine Signifikanz von mehr als fünf Standardabweichungen – dies entspricht einer Wahrscheinlichkeit von rund 3,5 Millionen zu eins, dass es sich um ein echtes Signal und nicht bloß Zufall handelt. Mit diesem Wert erfüllte die Ergebnisse von ATLAS und CMS die Voraussetzung für die offizielle Entdeckung eines Teilchens. Ihren Daten zufolge musste dieses Teilchen zudem eine Masse von gut 125 Gigaelektronenvolt aufweisen. Das passte perfekt zu dem Massenbereich, in dem man aufgrund von früheren Fahndungen das Higgs-Boson vermutete.
Meilenstein der Physik
„Ich denke, damit haben wir es, oder?“, konstatierte CERN-Generaldirektor Rolf Heuer unter dem Jubel des vollbesetzten Auditoriums am CERN. Nach jahrzehntelanger Suche war endlich das noch fehlende Teilchen im Puzzle des Standardmodells gefunden – das Higgs-Boson. Sein Nachweis bestätigte den mehr als 50 Jahre zuvor postulierten Brout-Englert-Higgs-Mechanismus und die Existenz eines massegebenden Skalarfelds im Kosmos.
Die Entdeckung des Higgs-Bosons war für Physiker weltweit ein einmaliger Meilenstein. „Für mich und wahrscheinlich die meisten meiner Generation fühlte es sich an, als wenn ein ganz neuer Kontinent der Wissenschaft entdeckt worden wäre – ein Kontinent, dessen Erforschung unser gesamtes Leben dauern könnte“, schildert McCullough seine Gefühle am 4. Juli 2012. „An diesem Tag wussten wir endlich, dass es ihn wirklich gibt.“
2013 erhielten Francois Englert und Peter Higgs dafür den Nobelpreis für Physik. Die schon verstorbenen Theoretiker und die tausenden an der Fahndung beteiligten Experimentalphysiker am CERN gingen dagegen leer aus – weil der Nobelpreis seinen Statuten zufolge nur auf maximal drei lebende Personen aufgeteilt werden darf.