Medizin

Coronavirus nutzt Nanotunnel im Gehirn

Zwischen Zellen gebildete "Frachtstraßen" werden zum Einfallstor für SARS-CoV-2

Nanotunnel
Coronaviren (blau) können Nanotunnel zwischen Hirnzellen nutzen, um Neuronen zu befallen. © Anna Pepe/ Institut Pasteur

Rätsel gelöst? Lange war unklar, wie das Coronavirus in die eigentlich unempfänglichen Hirnzellen eindringen kann. Jetzt enthüllt eine Studie ihren Trick. Demnach nutzt SARS-CoV-2 neuronale Nanoröhrchen, um in die Gehirnzellen zu gelangen. Diese Verbindungsleitungen zwischen Zellen führen direkt ins Innere der Neuronen – und ermöglichen es dem Erreger so, von empfänglichen Zellen in die eigentlich nicht anfälligen Neuronen zu gelangen. Hinzu kommt: Das Coronavirus fördert die Ausbildung solcher Nanotunnel und erleichtert sich damit die Ausbreitung.

Neurologische Symptome zeugen davon, dass das Coronavirus SARS-CoV-2 auch das Gehirn und Nervensystem in Mitleidenschaft zieht. So leiden viele Long-Covid-Patienten unter Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen sowie kognitiven Defiziten, auch der Hirnstoffwechsel ist bei einigen von Neuro-Covid Betroffenen gestört. Studien mit Hirn-Organoiden haben bereits nachgewiesen, dass sich das Virus in Neuronen vermehren kann und auch in den Gehirnen von mit Covid-19 gestorbenen Patienten wurden Coronavirus-Partikel nachgewiesen.

Nanotunnel
Nanotunnel bilden direkte Verbindungswege zwischen Zellen. © Pepe et al./ Science Advances, CC-by 4.0

Wie kommt das Coronavirus in die Neuronen?

Die Frage ist jedoch, wie das Coronavirus in die Gehirnzellen hineinkommt. Zwar stellen Nase und Riechnerv eine Eintrittspforte ins Gehirn dar, aber die Neuronen selbst sind für das Virus eigentlich nicht so leicht zu knacken. Denn anders als bei vielen anderen Körperzellen fehlt der für das Eindringen des Virus nötige ACE2-Rezeptor auf Neuronen oft oder ist nur in sehr geringer Zahl vertreten. „Deshalb ist bisher nicht klar, wie das Virus sich im Gehirn ausbreiten kann“, erklären Anna Pepe vom Institut Pasteur in Paris und ihre Kollegen.

Um diese Frage zu klären, ist das Team einer neuen Spur nachgegangen: Sie haben untersucht, welche Rolle interzelluläre Nanotunnel dabei spielen könnten. „Nanotunnel sind dünne, membranöse und actinhaltige Leitungen, die den direkten Transport von zellulärer Fracht wie Organellen, Amyloid-Proteinen und auch Virenpartikeln zwischen entfernten Zellen ermöglichen“, erklären die Forschenden. Weil diese Tunnel in das Innere der verbundenen Zellen führen, müssen diese „Frachtstücke“ nicht erst Membrankanäle oder Rezeptoren auf der Zelloberfläche passieren.

Infektion in Co-Kultur

Genau dies macht sich auch das Coronavirus zunutze, wie Pepe und ihre Kollegen jetzt herausgefunden haben. Für ihre Studie hatten sie zunächst SARS-CoV-2 zur Nährlösung einer Neuronen-Zellkultur gegeben. Wie erwartet schafften es die Viren nicht, in die Gehirnzellen einzudringen – es fehlte ihnen die Eintrittspforte in Form des ACE2-Rezeptors. „Das bestätigt, dass neuronale Zellen nicht durch einen Rezeptor-basierten Mechanismus infiziert werden können“, erklärt das Team.

Anders war dies  jedoch, wenn die Neuronen gemeinsam mit virusempfänglichen Epithelzellen kultiviert wurden: 24 Stunden nach der Zugabe von SARS-CoV-2 waren bereits ein Drittel der Gehirnzellen mit dem Coronavirus infiziert, nach 48 Stunden waren es bis zu 62 Prozent. „Neuronale Zellen können demnach mit dem Coronavirus infiziert werden, wenn sie gemeinsam mit anfälligen Zelltypen vorkommen“, schreiben Pepe und ihre Kollegen.

Nanotunnel
Diese Aufnahme zeigt, wie Coronaviren sich in Nanotunneln zwischen Neuronen bewegen. © Pepe et al./ Science Advances, CC-by 4.0

Angriff über die Nanotunnel

Nähere Analysen enthüllten, dass sich zwischen den verschiedenen Zellen Nanotunnel ausgebildet hatten. In diesen konnten die Forschenden sowohl komplette Virenpartikel nachweisen wie auch die von Proteinen gebildeten Replikations-Komplexe von SARS-CoV-2. Das Coronavirus kann demnach diese zellulären Tunnel nutzen, um von einer anfälligen, infizierten Zelle in normalerweise nicht zugängliche Zelltypen zu gelangen.

Bestätigt wurde dieser direkte, Rezeptor-unabhängige Transport auch durch einen ergänzenden Test, bei dem die Forschenden alle ACE2-Andockstellen durch einen Antikörper blockierten. In der von Nanotunneln durchzogenen Ko-Kultur waren nach 48 Stunden genauso viele Neuronen mit dem Coronavirus infiziert wie in nicht behandelten Kontrollkulturen. „Das bestätigt, dass SARS-CoV-2 durch den direkten Zelle-zu-Zelle-Kontakt in nicht-permissive Zellen eindringen kann“, konstatieren Pepe und ihr Team.

Zelltunnel schützen das Virus vor dem Immunsystem

Diese Ergebnisse könnten demnach erklären, wie das Coronavirus auch unsere Gehirnzellen befallen kann. Offenbar nutzt es dafür die Nanotunnel, die von den anderen im Gehirn liegenden Zelltypen bis in die Neuronen reichen. Und nicht nur das: Wie die Versuche ergaben, fördert das Virus die Ausbildung solcher Verbindungstunnel und macht sie stabiler und länger. In infizierten Mischkulturen erhöhte sich der Prozentsatz der mittels Nanotunnel verkoppelten Zellen um das Doppelte, wie die Forschenden feststellten.

„Zusammenfassend zeigen wir damit, dass SARS-CoV-2 die Nanotunnel kapern kann, um sich über die verbundenen Zellen auszubreiten“, schreiben Pepe und ihre Kollegen. „Diese interzelluläre Route könnte zur Pathogenese von Covid-19 beitragen und dem Virus Zutritt auch zu den nichtempfänglichen neuronalen Zellen verschaffen.“

Und noch etwas kommt dem Coronavirus dabei zugute: In diesen Nanotunneln ist das Virus für unser Immunsystem unsichtbar. Diese verborgenen Verbindungswege könnten es SARS-CoV-2 demnach erleichtern, der Immunabwehr zu entgehen und länger in diesen Geweben erhalten zu bleiben. (Science Advances, 2022; doi: 10.1126/sciadv.abo017)

Quelle: Institut Pasteur

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