Virale Spätfolgen? Die Infektion mit bestimmten Viren wie Influenza, Varicella Zoster und Epstein-Barr kann womöglich das Risiko für neurodegenerative Krankheiten erhöhen. Das legt eine Analyse der Gesundheitsdaten von rund 800.000 Menschen nahe. Die Daten können zwar keine ursächlichen Zusammenhänge, sondern nur Korrelationen aufzeigen, stehen aber im Einklang mit früheren Hinweisen auf mögliche virale Auslöser für Alzheimer, Multiple Sklerose und weitere neurodegenerative Erkrankungen.
Die Ursachen für neurodegenerative Erkrankungen sind trotz intensiver Forschung bislang nur in Ansätzen bekannt. Neben Umweltfaktoren wie Aluminium und Feinstaub werden auch Viren als mögliche Auslöser diskutiert. Einen deutlichen Hinweis darauf gab 2022 eine Studie, der zufolge das Eppstein-Barr-Virus, das bei Jugendlichen und Erwachsenen Pfeiffersches Drüsenfieber auslöst, das Risiko für eine Multiple Sklerose erhöht. Auch für Alzheimer haben bereits mehrere Studien nahegelegt, dass virale Einflüsse eine Rolle spielen könnten.
Spurensuche in Biodatenbanken
„Angesichts der jüngsten Erkenntnisse, die das Epstein-Barr-Virus mit einem erhöhten Risiko für Multiple Sklerose in Verbindung bringen, und der wachsenden Besorgnis über die neurologischen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie haben wir mögliche Zusammenhänge zwischen viralen Expositionen und dem Risiko für neurodegenerative Erkrankungen untersucht“, erklärt ein Forschungsteam um Kristin Levine von den amerikanischen National Institutes of Health (NIH) in Bethesda.
Levine und ihr Team werteten dazu zunächst die Gesundheitsdaten von mehr als 300.000 Personen aus der finnischen Biodatenbank FinnGen aus. Dabei fokussierten sie sich auf die neurodegenerativen Krankheiten Alzheimer, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Demenz, Multiple Sklerose, Parkinson und vaskuläre Demenz. Für all diese Erkrankungen suchten sie mögliche statistische Zusammenhänge zu früheren Virusinfektionen, darunter Influenza, Windpocken, Eppstein-Barr, virale Lungenentzündung, Meningitis, Hepatitis und virale Enzephalitis.
Zahlreiche Korrelationen nachgewiesen
Die statistischen Auswertungen ergaben 45 Korrelationen zwischen früheren Virusinfektionen und neurodegenerativen Erkrankungen. Um diese Ergebnisse zu validieren, wertete das Team zusätzlich rund 100.000 Datensätze aus der britischen UK Biobank aus. Tatsächlich bestätigten sich 22 der gefundenen Korrelationen auch in diesem Datensatz. In den meisten Fällen lagen Virusinfektion und Diagnose der neurodegenerativen Erkrankung rund ein Jahr auseinander, es gab aber auch Fälle mit 15 Jahren Abstand.
„Die stärkste Assoziation bestand zwischen der Exposition gegenüber viraler Enzephalitis und der Alzheimer-Krankheit“, berichtet das Team. „Influenza mit Lungenentzündung war signifikant mit fünf der sechs untersuchten neurodegenerativen Erkrankungen verbunden. Auch die Assoziation zwischen Epstein-Barr und Multipler Sklerose konnten wir mit unseren Daten replizieren.“
Kausalität bisher unklar
Ob diese statistischen Korrelationen tatsächlich ursächliche Zusammenhänge widerspiegeln, lässt sich aus den Daten jedoch noch nicht ableiten. Denn denkbar wäre auch eine Umkehrung von Ursache und Wirkung: Menschen mit einer noch unentdeckten aber schon vorhandenen neurodegenerativen Erkrankung könnten demnach anfälliger für bestimmte Viruserkrankungen sein.
„Wir kennen das bereits aus Tiermodellen und konnten es in der Corona-Pandemie auch verstärkt bei Alzheimer-Patienten beobachten“, kommentiert Martin Korte vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, der nicht an der Studie beteiligt war. „Menschen, die schon vor einer Infektion an Alzheimer erkrankt waren, waren gefährdet, einen besonders schweren Covid-19-Verlauf zu haben.“
Dennoch hält Korte es für durchaus plausibel, dass hinter den in der Studie aufgedeckten Korrelationen tatsächlich kausale Zusammenhänge stecken. Seine eigene Forschungsgruppe hat an Mäusen gezeigt, dass eine Grippeinfektion über eine starke Anregung des Immunsystems auch das Immunsystem im Gehirn aktiviert – und dabei womöglich Nervenzellen schädigt. „Unsere Hypothese ist, dass diese Neuroinflammation das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen kann“, so Korte.
Grippeimpfung als Schutz vor Alzheimer?
Levine und ihr Team merken an, dass gegen mehrere der Virusinfektionen, die womöglich das Risiko für neurodegenerative Krankheiten erhöhen könnten, bereits Impfungen zur Verfügung stehen. „Es wäre denkbar, dass diese Impfungen einen Weg bieten, das Risiko für neurodegenerative Krankheiten zu verringern“, so das Team. Bevor aber über entsprechende Impfempfehlungen nachgedacht werden kann, gilt es nachzuweisen, ob entsprechende Impfungen tatsächlich das Risiko für Alzheimer und Co. reduzieren können.
„Genau das untersuchen wir aktuell bei uns im Labor“, berichtet Korte. „Im Mausmodell sehen wir klar, dass eine Grippeimpfung im Gegensatz zu einer Infektion vor den langfristigen Schäden im Gehirn schützt.“ Weitere Studien müssen nun zeigen, ob sich diese Ergebnisse bestätigen. Wenn ja, wäre dies ein zusätzlicher deutlicher Hinweis darauf, dass tatsächlich eine mechanistische Beziehung zwischen Viruserkrankungen und neurodegenerativen Erkrankungen besteht. (Neuron, 2023, doi: 10.1016/j.neuron.2022.12.029)
Quelle: Neuron, Science Media Center