Vielfältiger als gedacht: Bislang sind Biologen davon ausgegangen, dass Tiere nur dann deutlich größer werden als ihre Vorfahren, wenn sich ihre Wachstumsrate erhöht. Doch eine umfassende Analyse von Raubsaurier-Knochen legt nun nahe, dass die Dauer des Wachstums eine ebenso wichtige Rolle spielen könnte wie dessen Geschwindigkeit. Diese Erkenntnisse könnten laut Wissenschaftlern auch auf heutige Tiergruppen übertragbar sein und das bisherige Verständnis der evolutionären Größenvielfalt umkrempeln.
Alle Raubsaurier (Theropoden), vom busgroßen Tyrannosaurus rex bis hin zum nur etwa hundegroßen Velociraptor, haben gemeinsame Vorfahren. Doch wie konnte sich aus ihnen eine derartige Größenvielfalt entwickeln? Bislang gingen Paläontologen davon aus, dass manche Ur-Theropoden nur deshalb zu Riesen werden konnten, weil sich ihre Wachstumsrate im Laufe der Jahrmillionen erhöht hatte, sie also besonders schnell wuchsen. Andere Raubsaurier hingegen wuchsen langsamer und waren deshalb kleiner, so die Theorie.
Wachstumsringe in Dinoknochen
Doch neue Erkenntnisse stellen diese bisherigen Annahmen nun in Frage. Paläontologen um Michael D’Emic von der Adelphi University im US-Bundesstaat New York haben in einer groß angelegten Studie die Wachstumsstrategien von 42 verschiedenen Theropodenarten miteinander verglichen und dadurch evolutionäre Trends abgeleitet. Die untersuchten Raubsaurier decken die gesamte Dino-Ära ab, von den ersten Theropoden vor circa 230 Millionen Jahren bis hin zu den letzten kurz vor dem tödlichen Asteroideneinschlag vor rund 66 Millionen Jahren.
Um herauszufinden, wie schnell die verschiedenen Dinosaurier wuchsen und wie lange ihre Wachstumsphase anhielt, genügt ein Blick auf ihre Knochenquerschnitte. Ähnlich wie die Jahresringe eines Baumes zeigen die darin sichtbaren „kortikalen Wachstumsmarken“, wie alt ein Tier war und wie schnell und lange es einst gewachsen ist. „Weit auseinander liegende Ringe deuten auf ein schnelleres Wachstum hin, während eng beieinander liegende Ringe darauf hindeuten, dass ein Tier langsamer wuchs“, erklärt D’Emic.
Er und seine Kollegen analysierten die Wachstumsringe der Raubsaurier und verglichen sie mit den Mustern ihrer Vorfahren. Auf diese Weise konnten sie erkennen, mit welchen Strategien die verschiedenen Theropoden im Laufe der Evolution zu wahren Riesen geworden waren oder sich zu Zwergen entwickelt hatten.
Auch die Wachstumsdauer spielte eine Rolle
Das Ergebnis: Raubsaurier wurden nicht notwendigerweise größer oder kleiner, nur weil sie schneller oder langsamer wuchsen. „Es besteht kein Zusammenhang zwischen der Körpermasse und der maximalen jährlichen Wachstumsrate“, postuliert das Forschungsteam. „Einige riesige Dinosaurier wuchsen sehr langsam, langsamer als heutige Alligatoren. Und einige kleinere Dinosaurier wuchsen sehr schnell, so schnell wie heute lebende Säugetiere“, berichtet D’Emic. Die Wachstumsrate kann also nicht der alleinige Faktor sein, der über Riesen- oder Zwergenwuchs entschied.
Um die Evolution der Größenvielfalt zu entschlüsseln, braucht es neben der Geschwindigkeit des Wachstums auch dessen Dauer, wie D’Emic und seine Kollegen herausgefunden haben. Demnach wuchsen einige Raubsaurierarten ihr Leben lang weiter, andere legten dagegen nur in ihrer Jugend an Größe zu. Riesenwuchs war also möglich, indem die Dinosaurier entweder schneller oder insgesamt länger wuchsen als ihre Vorfahren. Ersteres war beispielsweise beim Tyrannosaurus der Fall, zweiteres beim Spinosaurus mit seinem ikonischen Rückensegel.
Umgekehrt wurden andere Theropoden im Laufe der Evolution kleiner, indem sie entweder langsamer wuchsen oder ihre Wachstumsdauer verkürzten. Letzteres war etwa bei einem Verwandten des Velociraptors, dem Deinonychus, der Fall. Womöglich lässt sich dieses Schema auch auf andere Tiere übertragen. Deshalb wünscht sich D’Emic weitere Untersuchungen zu anderen Tiergruppen, sowohl zu lebenden als auch zu ausgestorbenen. (Science, 2023; doi: 10.1126/science.adc8714)
Quelle: Ohio University, Science