Zelle für Zelle und Protein für Protein: Ein hochaufgelöster Atlas zeigt bis ins kleinste Detail, wie sich unsere Netzhaut entwickelt. Möglich wurde diese Kartierung mit einer neuen Methode, die Einzelzell-Sequenzierungen von DNA und RNA und die Kartierung von mehr als 50 verschiedenen Proteinen in sich entwickelnden Retina-Organoiden erlaubt. Diese Technik eröffnet nun die Möglichkeit, Augenkrankheiten besser als zuvor zu erforschen, wie das Team in „Nature Biotechnology“ berichtet.
In welchem menschlichen Gewebe kommt wo welcher Zelltyp vor? Welche Gene sind in den einzelnen Zellen aktiv, und welche Proteine findet man dort? Um dies herauszufinden nutzen Wissenschaftler schon länger Methoden wie die Einzelzellsequenzierung, bei der die RNA und DNA in jeder Zelle für sich analysiert wird. Dies erlaubt es beispielsweise nachzuvollziehen, wann welche Gene in einem sich entwickelnden Embryo an- und ausgeschaltet werden oder wie sich kranke Zellen in einem Gewebe von gesunden unterscheiden.
Eine weitere Methode ist die Fluoreszenzmikroskopie, bei der einzelne Moleküle wie beispielsweise Proteine mit einem Farbstoff markiert und dann ihre Verteilung im Gewebe sichtbar gemacht wird.
Von Stammzellen zur fast fertigen Netzhaut
Jetzt hat ein Team um Philipp Wahle von der ETH Zürich diese Methoden weiterentwickelt und kombiniert, um damit erstmals die Entwicklung der menschlichen Retina an Organoiden nachzuvollziehen und bis auf die Zellebene genau zu kartieren. Dafür züchteten die Forschenden die dreidimensionalen Gewebekulturen aus verschiedenen menschlichen Stammzelllinien, die an der Entwicklung der Retina beteiligt sind.
Im Labor ließen sie diese Organoide 39 Wochen lang wachsen und verfolgten dabei ihre Entwicklung auf genetischer, zellulärer und molekularer Ebene. „Wir können damit zeigen, wie sich das Organoid-Gewebe langsam aufbaut, wo sich wann welche Zelltypen vermehren und wo sich die Synapsen befinden. Die Vorgänge sind vergleichbar mit jenen der Netzhautbildung während der Embryonalentwicklung“, erklärt Koautor Gray Camp von der Universität Basel.
4i-Technologie: Farbmarkierung für 53 Proteine
Besonders tiefe Einblicke erhielten die Forschenden durch eine neu entwickelte Methode, das sogenannte Iterative Indirect Immunofluorescence Imaging, kurz 4i-Technologie. Sie erlaubt es erstmals, mehrere Dutzend Proteine in einem sich entwickelnden Gewebe sichtbar zu machen. Bei der normalen Fluoreszenzmikroskopie können aus technischen Gründen nicht mehr als fünf Proteine gleichzeitig angefärbt werden. Bei der 4i-Technologie werden drei Farbstoffe genutzt, diese nach der Messung wieder aus der Gewebeprobe weggewaschen und dann drei neue Proteine sichtbar gemacht.
Für die Kartierung des Netzhaut-Organoide führte ein Roboter diesen Schritt im Laufe von mehreren Tagen 18 Mal durch. Im Computer wurden die so gewonnenen Einzelbilder zu einem einzigen Mikroskopiebild zusammengefügt. Das Resultat ist eine Proteinkartierung des Organoids, die 53 verschiedene Proteine und ihre Verteilung sichtbar macht. Dies liefert wichtige Informationen über die Entwicklung der einzelnen Zelltypen, aus denen die Netzhaut besteht, also zum Beispiel auf Stäbchen- und Zapfenzellen sowie Ganglienzellen.
Referenz für Fehlbildungen und Krankheiten
Das Resultat dieser Analysen ist ein erster hochauflösender Atlas menschlicher Netzhaut-Organoide und ihrer Entwicklung. Er liefert nun wertvolle Einblicke darin, wie sich eine gesunde Retina beim Embryo zeitlich und räumlich entwickelt. Diese Kartierung kann nun als Referenz dienen, um die Entstehung von Fehlbildungen oder Netzhauterkrankungen genauer zu erforschen. Das Team um Wahle plant bereits weitere Kartierungen an Retina-Organoiden, deren Entwicklung durch Wirkstoffe oder Genveränderungen gestört ist.
„Damit werden wir neue Einblicke gewinnen in Krankheiten wie Retinitis pigmentosa, die vererbbar ist und bei der die lichtempfindliche Rezeptoren der Netzhaut in einem schleichenden Prozess degenerieren, während dem Betroffene erblinden“, sagt Camp. Die Forschenden wollen herausfinden, wann dieser Vorgang beginnt und wie man ihn möglicherweise stoppen kann. Sie planen zudem, ihre Methoden auch zur Kartierung anderer menschlicher Gewebe zu nutzen. Schritt für Schritt soll damit ein Atlas entstehen, der Auskunft über die Entwicklung von verschiedensten menschlichen Organoiden und Geweben gibt. (Nature Biotechnology, 2023; doi: 10.1038/s41587-023-01747-2)
Quelle: Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)