Neurowissenschaften

Der Realität auf der Spur

Unsere eigene Wahrnehmung als Zerrlinse

beruflicher Erfolg
Menschen mit realistischem Selbstbild sind im Leben in der Regel erfolgreicher. © Artem Peretiatko/ iStock

„Menschen, die ihre Fähigkeiten präziser einschätzen, sind im Schnitt beruflich erfolgreicher, haben höhere Einkommen und leben sogar gesünder“, erklärt Fabian Kosse von der Universität Würzburg. Denn wer sich selbst und seine körperliche Verfassung realistisch einschätzen kann, der trifft im Schnitt auch bessere Entscheidungen. Zum Beispiel schlägt er einen Karrierepfad ein, der zu ihm passt, oder achtet auf ein ideales Gewicht und vermeidet so die gesundheitlichen Probleme, die mit Unter- oder Übergewicht einhergehen.

Realität versus Wahrnehmung

Doch sich selbst realistisch einzuschätzen und wahrzunehmen, ist gar nicht so einfach wie es klingt. Woher soll ich zum Beispiel wissen, wie genau die Realität überhaupt aussieht? Und wie erkenne ich im nächsten Schritt, ob meine individuelle Wahrnehmung mit dieser Realität übereinstimmt? „Die Wahrnehmung ist die Linse, durch die wir die Realität betrachten. Unsere Wahrnehmungen beeinflussen, wie wir die Realität interpretieren“, erklärt der US-amerikanische Psychologe Jim Taylor in „Psychology Today“.

Bahnhof
Jeder nimmt die Realität anders wahr, zum Beispiel das rege Treiben am Bahnhof. © Bene-Images/ iStock

Wie genau unsere Wahrnehmungslinse geformt ist, hängt zum Beispiel von angeborenen Faktoren ab. So nimmt jemand Farbenblindes oder Taubes die Realität zwangsweise anders wahr als jemand ohne diese Einschränkungen. Gleichzeitig können aber auch frühere Erfahrungen, unser Wissen sowie unsere Meinungen und Interessen darüber entscheiden, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen.

Lässt man zum Beispiel unterschiedliche Personen eine halbe Stunde lang das rege Treiben an einem Bahnhof beobachten, hat jeder zwar objektiv dasselbe gesehen, aber nicht dasselbe wahrgenommen. Jemand, der sich ein Kind wünscht, achtet in dieser halben Stunde vielleicht auf Paare mit Kinderwagen. Jemand, der gerade hungrig ist, konzentriert sich auf den Duft der nahegelegenen Pommesbude. Und jemand, der traurig ist, schaut vielleicht einfach nur unter sich auf das Muster der Bahnhofsfliesen.

Klausur schreiben
Unser Selbstbild formt sich durch Rückmeldungen von außen, zum Beispiel durch Testergebnisse in der Schule. © LuckyBusiness/ iStock

Per Vergleich zum Selbstbild

Auch die Wahrnehmung von unserem eigenen Ich verläuft ähnlich: Wir fokussieren uns auf manche Aspekte mehr als auf andere. Zum Beispiel auf die Nase, die wir schon immer zu groß und krumm fanden, oder die prallen Armmuskeln, auf die wir so stolz sind. Worauf wir besonderes Augenmerk legen, hängt auch von der Gesellschaft und unserem persönlichen Umfeld ab.

Denn um herauszufinden, wer wir wirklich sind, was an uns attraktiv aussieht und was wir gut können, sind wir auf den Vergleich mit anderen angewiesen. Wie intelligent wir sind, verrät uns der Notenspiegel an der Schultafel. Wie dünn oder dick wir sind, zeigen uns Werbekampagnen im Fernsehen, aber auch Mitmenschen, die uns für unser Gewicht loben oder tadeln. Diese Vergleiche dauern unser gesamtes Leben an und helfen uns dabei, unser Bild von uns selbst durchgehend zu aktualisieren.

Hand
Unsere Wahrnehmung lässt sich auch austricksen, sodass unsere Hände sich zum Beispiel auf einmal wie aus Marmor anfühlen. © Evan-Amos/CC-by-sa 3.0

Eine Hand aus Marmor

Da unsere Selbstwahrnehmung so dynamisch ist, lässt sie sich auch leicht austricksen. Ein Beispiel dafür ist die „Marmorhand-Illusion“. Wenn man jemandem vorsichtig mit einem kleinen Hammer auf die Hand klopft und ihm dabei das Geräusch eines auf Marmor prallenden Hammers vorspielt, nimmt derjenige unwillkürlich an, seine Hand bestünde ebenfalls aus Marmor. Zumindest fühlt sie sich für einige Minuten deutlich steifer, schwerer und härter an.

Eine gezielte Manipulation der eigenen Körperwahrnehmung kann auch Gutes bewirken, zum Beispiel bei Menschen mit amputierten Gliedmaßen, die an Phantomschmerzen leiden. Spiegelt man ihr gesundes Körperteil so, dass es sich an der Stelle der amputierten Gliedmaße befindet, glaubt ihr Gehirn vorübergehend, sie hätten wieder zwei gesunde Körperteile. Das lindert auch die Phantomschmerzen zeitweise.

Großer Einfluss auf das Verhalten

Ob unser Selbstbild nun durch Manipulation oder Feedback anderer entstanden ist, ändert nichts an seiner tiefgreifenden Bedeutung für unser Leben. „Alles, was wir tun oder sagen, alles, was wir hören, fühlen oder anderweitig wahrnehmen, wird davon beeinflusst, wie wir uns selbst sehen“, erklärt der Ökonom Paul Brouwer in der „Harvard Business Review“. Kurzum: Unser gesamtes Verhalten hängt davon ab, welches Bild wir von uns selbst haben.

Umso interessanter ist es, dass sich die wenigsten von uns wirklich realistisch einschätzen und wahrnehmen können. Unter psychisch gesunden Menschen sind vor allem Selbstüberschätzung und ein gewisses Maß an Überheblichkeit keine Seltenheit.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das verzerrte Ich
Wenn unser Selbstbild von der Realität abweicht

Der Realität auf der Spur
Unsere eigene Wahrnehmung als Zerrlinse

Ich und die anderen
Wieso wir uns oft überschätzen

„Ich bin nicht gut genug“
Folgen eines negativen Selbstbilds

Mein entstelltes Ich
Wenn der Spiegel lügt

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