Schnell und brutal: Vor der Küste Südafrikas ist ein Orca erstmals dabei beobachtet worden, wie er einen Weißen Hai im Alleingang tötet und ihm seine nahrhafte Leber herausreißt. Die Attacke dauerte nicht einmal zwei Minuten und richtete sich gegen ein 2,50 Meter langes Jungtier. Zuvor war lediglich bekannt gewesen, dass Killerwale in Gruppen Jagd auf Weiße Haie machen. Biologen befürchten, dass die neue Jagdstrategie das marine Ökosystem vor Südafrika weiter aus dem Gleichgewicht bringen könnte.
Orcas gehören zu den Spitzenprädatoren des Ozeans. Die intelligenten, bis zu neun Meter langen Zahnwale leben in Familienverbänden und gehen auch gemeinsam auf die Jagd. Je nach Population stehen etwa Fische, Robben, Delfine oder sogar riesige Bartenwale wie der Blauwal auf der Speisekarte. Einzelne Gruppen haben allerdings eine noch ungewöhnlichere Geschmacksvorliebe entwickelt: Weiße Haie beziehungsweise deren energiereiche, fetthaltige Leber.
Haijagd vor Südafrika
Die bekanntesten Haijäger unter den Killerwalen sind zwei südafrikanische Männchen namens Port und Starboard. Ihre Namen, die übersetzt Backbord und Steuerbord bedeuten, verweisen auf ihre jeweils in entgegengesetzte Richtungen gekrümmten Rückenflossen. Seit 2017 ist das Paar immer wieder dabei beobachtet worden, wie es vor der Küste Südafrikas gezielt Weiße Haie jagt. Offenbar hat das Orca-Duo sein Knowhow seitdem auch an Artgenossen weitergegeben, wie Luftaufnahmen einer Haijagd zeigen, an der neben Port und Starboard noch vier weitere Killerwale beteiligt waren.
Die intensive Bejagung der südafrikanischen Weißen Haie hat bereits dazu geführt, dass sich die Raubfische zunehmend zurückgezogen haben und die Haupt-Jagdgebiete weitgehend meiden. Das Problem: Da die bis zu sechs Meter langen Weiße Haie in genau diesen Gebieten eigentlich die Rolle des Spitzenprädators innehaben, verändert sich der Aufbau des Ökosystems und seiner Nahrungsketten zunehmend. So tauchen zum Beispiel immer häufiger mittelgroße Bronzehaie vor der Küste auf, weil sie nun weniger Angriffe von Weißen Haien befürchten müssen.
Eine neue Strategie
Diese Verschiebungen im Ökosystem könnten nun noch größere Ausmaße annehmen. Denn wie Forschende um Alison Towner von der Rhodes University nun erstmals beobachten konnten, haben Port und Starboard ihre Jagdfähigkeiten weiter verfeinert. Offenbar brauchen sie nun nicht mehr die Unterstützung ihres Artgenossen geschweige denn einer ganzen Orca-Gruppe: Sie nehmen es jetzt auch im Alleingang mit Weißen Haien auf.
Zum ersten Mal beobachtet haben Towner und ihr Team die neue Jagdstrategie Mitte Juni 2023 in der Mossel Bay, 400 Kilometer östlich von Kapstadt. „Um 15:02 Uhr erschien ein junger Weißer Hai von circa 2,50 Meter Länge an der Oberfläche und Starboard tauchte direkt hinter ihm auf“, beschreiben sie die Begegnung. „Starboard packte dann die linke Brustflosse des Hais und stieß ihn mehrmals vorwärts, bevor er ihn schließlich ausweidete“. Starboards Partner Port hielt sich währenddessen rund 100 Meter entfernt. Ein zweites Schiff konnte schließlich filmen, wie Starboard einige Minuten später mit einem blutigen Stück pfirsichfarbener Leber im Maul vorbeischwamm.
Jagd in Rekordzeit
Die Attacke war einerseits ungewöhnlich, weil Starboard es ganz allein statt mit der Hilfe einer zwei- bis sechsköpfigen Gruppe mit dem Weißen Hai aufgenommen hatte. Andererseits verblüffte Towner und ihr Team aber auch die schiere Geschwindigkeit, mit der Starboard dem Hai ein Ende bereitete. Der gesamte Angriff dauerte gerade einmal zwei Minuten. Bei zuvor beobachteten Orca-Raubzügen waren es jeweils fast zwei Stunden gewesen.
Allerdings hatte Starboard es auch nur auf ein Jungtier und nicht auf ein ausgewachsenes Exemplar abgesehen. Die Forschenden schätzen, dass der Hai dennoch bereits rund 100 Kilogramm schwer gewesen sein dürfte, mit einer Lebermasse von fünf bis 24 Kilogramm. Womöglich war das Jungtier aber nicht das einzige Opfer an diesem Tag, denn später wurde ein zweiter Weißer Hai ausgeweidet am Strand angespült. Mit einer Länge von 3,50 Metern war er bereits etwas größer.
Ein Risiko fürs Ökosystem
Die Forschenden sind zwar fasziniert davon, wie schnell Port und Starboard sich neue Jagdtechniken beigebracht haben. Doch gleichzeitig bereitet diese Entwicklung ihnen auch Unbehagen: „Trotz meiner Bewunderung für diese Raubtiere mache ich mir zunehmend Sorgen um das ökologische Gleichgewicht in den Küstengewässern“, sagt Koautor Primo Micarelli von der italienischen Universität Siena.
Wenn die Killerwale die südafrikanischen Haipopulationen dank neuer Jagdtechniken nun noch stärker unter Druck setzen, könnte das zu weiteren tiefgreifenden Veränderungen im marinen Ökosystem führen, fürchten die Forschenden. Gibt es weniger Weiße Haie, könnte zum Beispiel die Zahl Südafrikanischer Seebären ansteigen, die dann wiederum mehr von den stark bedrohten Brillenpinguinen fressen würden. Und auch die Weißen Haie selbst gelten als bedroht und schützenswert. (African Journal of Marine Science, 2024; doi: 10.2989/1814232X.2024.2311272)
Quelle: Taylor & Francis Group