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Havarien

Was geschah wirklich beim Untergang der „Estonia“?

Warum es bis heute Spekulationen zur Ursache der Schiffskatastrophe gibt

Estonia
Modell der am 28. September 1994 in der Ostsee gesunkenen Fähre "Estonia". © Pjotr Mahhonin/ Estonian Maritime Museum/ CC-by-sa 4.0

Vor 30 Jahren, am 28. September 1994, sank die Fähre „Estonia“ in der Ostsee – 852 Menschen starben. Doch was war schuld an diesem schwersten Schiffsunglück seit der Titanic? Trotz jahrzehntelangen Untersuchungen und einem eigentlich klaren Ergebnis gibt es über die Ursache noch immer Spekulationen und Verschwörungstheorien. Ein Experte für die Analyse technischer Katastrophen hat den Fall nun noch einmal neu aufgerollt.

Die letzte Fahrt der 157 Meter langen Autofähre „Estonia“ beginnt als reine Routine: Am 27. September 1994 gegen 19:15 Uhr legt das Schiff im estnischen Tallinn ab und nimmt Kurs auf die schwedische Hauptstadt Stockholm. An Bord sind neben zahlreichen Fahrzeugen 989 Menschen – Passagiere und Crew der Fähre. Bei der nächtlichen Überfahrt ist die See unruhig, es herrscht Sturm, später sogar Orkan, doch auf dieser Route über die Ostsee ist das nichts Ungewöhnliches.

Der Untergang

Doch bei dieser Fahrt ist alles anders: Gegen 00:55 Uhr nachts ertönt plötzlich ein lautes, metallisches Krachen, rund eine Viertelstunde später folgen zwei starke Erschütterungen. Jetzt geht alles ganz schnell: Die Estonia“ bekommt immer stärkere Schlagseite. Es wird Alarm gegeben und gegen 01:22 Uhr beginnt das Schiff, einen Notruf zu senden. Doch schon gegen 01:30 Uhr verstummt die „Estonia“ und verschwindet vom Radar: Die Fähre ist gesunken – mit ihr sterben 852 der 989 Menschen an Bord.

Der Untergang der „Estonia“ in der Nacht zum 28. September 1994 ist das schwerste Schiffsunglück in Friedenzeiten seit dem Untergang der Titanic im Jahr 1912. Doch was war die Ursache dieser Katastrophe? Warum sank das Schiff so schnell und warum konnten sich nur so wenige Menschen retten? Über diese Fragen wird seit 30 Jahren gestritten – obwohl die Fakten eigentlich relativ klar sind.

Bugvisier der Estonia
Das im Oktober 1994 geborgene Bugvisier der „Estonia“. Es wird heute in einer speziellen Halle des Seehistorischen Museums auf der schwedischen Insel Muskö aufgewahrt. © Anneli Karlsson/ Sjöhistoriska Museet, CC-by 4.0

Die abgerissene Bugklappe

Eine erste Erklärung für die Katastrophe lieferte im Jahr 1997 lieferte eine von Schweden, Estland und Finnland initiierte Untersuchungskommission: Schuld am schnellen Versinken der Autofähre war demnach die Bugklappe der „Roll-on-Roll-off“-Fähre“. „Das Schiff sank, weil Bugvisier und Fahrzeugrampe in der stürmischen Ostsee unter starker Wellenlast abbrachen und das nun offene Fahrzeugdeck in kurzer Zeit geflutet wurde“, berichtet Marcel Schütz von der Northern Business School in Hamburg.

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Dieses Szenario erklärt das laute Krachen und die späteren Erschütterungen: Sie wurden vom Bruch der Scharniere erzeugt und von der abgerissenen Bugklappe, die mit dem Schiffsrumpf kollidierte und unter ihm entlangschrammte. Doch die Besatzung des Schiffs begriff viel zu spät, was passiert war: Das Bugvisier war von der Brücke aus nicht direkt sichtbar und die Sensoren an der Klappenverriegelung funktionierten nicht korrekt. Zudem fand offenbar keine Kommunikation mit dem Fahrzeugdeck stattfand. Dadurch reagierte die Schiffscrew zu spät und alarmierte auch die Passagiere nicht rechtzeitig.

Gab es eine Explosion?

Doch eine andere Frage sorgte für Diskussionen: Warum brach das Bugvisier der Fähre? Eigentlich sollten diese von massiven Scharnieren gehaltenen Klappen selbst starkem Seegang widerstehen können und auch die „Estonia“ hatte bereits ein paar stürmische Überfahrten überstanden. Deshalb gibt es bis heute zahlreiche Spekulationen über die Ursache – sie reichen von Sabotage über einen Terroranschlag bis zu einer Kollision oder einem Beschuss durch ein U-Boot. Angeheizt wurde dies zum einen dadurch, dass die Kommission anfangs Aufnahmen vom Meeresgrund zurückhielt.

Als dann erste Aufnahmen der Wrackteile veröffentlicht wurden, interpretierten einige deren Form und Schäden als Hinweis auf eine Explosion. Im Jahr 2020 zeigten dann neue Tauchroboter-Aufnahmen ein großes Loch im Rumpf der „Estonia“ – was Anlass für weitere Spekulationen über eine Explosion gab. Sie verstärkten sich noch, als herauskam, dass die Fähre auch Militärtechnik und Waffen transportierte. Das könnte sie zum Ziel eines Anschlags gemacht haben, so die Vermutung.

Eigentlich nur für Küstenfahrten zugelassen

Allerdings: Sowohl die erste Untersuchungskommission als auch alle folgenden kamen zu einem anderen Schluss: Demnach war eine unzureichende Konstruktion des Bugvisiers der Fähre schuld. Sie war nicht für die Wellenkraft des offenen Meeres ausgelegt, außerdem fehlte eine wichtige – und für Fahrten auf hoher See vorgeschriebene – Zusatzsicherung. Aber wie konnte die Fähre trotz dieser Mängel dann zugelassen werden?

Dies liegt daran, dass die „Estonia“ von der deutschen Meyer-Werft in Papenburg eigentlich als Küstenfähre gebaut wurde, wie Schütz erklärt. „Daher wurde auf die Installation eines zusätzlichen Sicherheitsschotten hinter Bugvisier und Rampe verzichtet. Dieses war nach internationalen Seeregeln bei Meeresüberfahrten erforderlich. Für den landnahen Betrieb galt aber eine Ausnahme davon. “ so der Experte. 1980 wurde die Fähre daher unter dem Namen „Viking Sally“ für den küstennahen Einsatz zugelassen.

Kette von Fehlern und Schlampereien

Doch Anfang der 1990er Jahre wurde die Fähre verkauft, in „Estonia“ umgetauft und nun auch für Fahrten quer über die Ostsee eingesetzt – obwohl sie dafür eigentlich nicht ausgelegt war. „Die Schiffszulassung war nicht ganz durchsichtig und auch widersprüchlich“, erklärt Schütz. Es war nicht klar vermerkt, dass dem Schiff die zusätzlichen Schotten fehlten. Daher wurde auch der neue Einsatz der „Estonia“ genehmigt. „Die Estonia ging als Küstenfähre in Betrieb, aber als Meeresfähre unter“, so der Experte für technische Unglücke.

Weitere Faktoren kamen verschärfend hinzu: Das Bugvisier der „Estonia“ und ihre Verriegelungen waren nach jahrelangem Gebrauch angegriffen und nur unzureichend gewartet. Zudem fuhr die Fähre angesichts des schweren Sturms zu schnell und setzte ihre Bugklappe daher verstärkter Belastung aus. Als der Bug dann schon offen war, vollführte der Schiffsführer ein Manöver, durch das noch mehr Wasser ins Autodeck strömen konnte.

Zusammengenommen sieht Schütz in diesem Ereignis und seiner Aufarbeitung einen geradezu typischen Fall: Eine Kette von Fehlentscheidungen, Schlampigkeiten und Ignoranz führte zur Katastrophe, anschließend sorgten Intransparenz, Streitigkeiten und Fehler staatlicher Stellen bei der Aufklärung dafür, dass Verschwörungstheorien Nahrung erhielten.

Quelle: Northern Business School

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