Laut der Sapir-Whorf-Hypothese wird unsere Wahrnehmung von dem Wortschatz und der Grammatik unserer Muttersprache beeinflusst. Wenn ich beispielsweise mehrere Begriffe für unterschiedliche Blautöne kenne, kann ich diese auch besser auseinanderhalten. Die semantischen Strukturen von Sprachen prägen sogar die Wahrnehmung der grundlegenderen Dimensionen wie Zeit und Raum.
Osten, statt links
Beispielsweise würden die meisten Kulturen sagen, dass eine Tasse links von der Milch und ein Stuhl links vom Tisch steht. Dadurch bestimmen sie die Position dieser Objekte relativ zum eigenen Standort: Von der anderen Seite des Tischs betrachtet befindet sich der Stuhl jedoch rechts, statt links vom Tisch. Die sogenannten absoluten Orientierungsrichtungen Norden, Osten, Süden und Westen nutzen die meisten Kulturen hingegen erst bei weiteren Entfernungen.
Doch der australische Aborigine-Stamm der Guugu Yimithirr nutzt immer die Himmelsrichtungen zur räumlichen Orientierung. Um eine Person als vor dem Baum stehend zu beschreiben, würde ein Guugu Yimithirr beispielsweise sagen „George steht nördlich vom Baum“, um zu erklären, wo der Tabak liegt: „Ich habe ihn am südlichen Rand des westlichen Tisches in deinem Haus liegen lassen“, oder, um einen Bekannten aufzufordern, den Camping-Gasherd auszuschalten: „Dreh den Knopf bitte nach Westen.“
Google Maps im Kopf
Gleichzeitig orientieren sich die Guugu Yimithirr an neuen Orten besser als Menschen aus Kulturen mit relativem Orientierungssystem. Sie können beispielsweise auch Tage nach einem Besuch in einem fensterlosen Gebäude noch genaue Auskunft über die Ost-West-Ausrichtung der Räume und die Himmelsrichtung des Standorts einzelner Personen im Raum geben. „Und auch nachts in einem fahrenden Fahrzeug auf einer kurvigen Straße können sie jederzeit genau auf die Himmelsrichtungen zeigen“, berichtet Steven Levonson vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik.
Die Guugu Yimithirr scheinen zu jeder Zeit eine mentale Karte der Welt inklusive der Himmelsrichtungen in sich zu tragen und diese bei Fortbewegung konstant anzupassen. Forschende vermuten, dass sie diese kognitive Fähigkeit wegen ihres kommunikativen Fokus auf die Himmelsrichtungen von klein auf erlernen und dass auf diese Weise die Sprache des Aborigine-Stammes deren Weltbild beeinflusst.
Verläuft die Zeit für manche Kulturen von Osten nach Westen?
Diese absolute räumliche Orientierung und deren Kommunikation beeinflussen auch das Zeitverständnis der Aborigines, wie ein Team um Alice Gaby von der University of California in Berkeley feststellte. In einer Studie legten sie den Probanden mehrere Fotos vor, die ein Objekt im Zeitverlauf, beispielsweise eine alternde Banane, zeigten. Die Testpersonen sollten die Bilder in die richtige Reihenfolge bringen. Und siehe da: Die Aborigines arrangierten den Zeitverlauf der Bilder immer von Osten nach Westen.
Das Forschungsteam testete auch Angehörigen anderer Kulturen. Es zeigte sich, dass Angehörige von Kulturen, die Schrift von rechts nach links lesen, wie beispielsweise arabisch- oder hebräischsprachige Menschen, auch die Bilder so anordneten, dass die Vergangenheit rechts und die Zukunft links von ihnen lag. Für Menschen aus Deutschland, England oder Russland hingegen verläuft Zeit genau in die andere Richtung – von links nach rechts.
Kein Mathe ohne Zahlwörter
Der Einfluss der Sprache erstreckt sich auch auf das Verständnis von Zahlen und Mengen. Demnach beeinflusst das Fehlen von Zahlwörtern in einer Sprache, ob und wie gut die Sprechenden Zahlen und ihren relativen Wert erkennen. Das stellten Forschende in einem Experiment mit Taubstummen fest, die keine offizielle Gebärdensprache erlernt haben und stattdessen anhand von ausgedachte Gebärden kommunizieren – dadurch kannten die getesteten sogenannten Homesigners lediglich die Gebärden für die Zahlworte „eins“, „zwei“ und „drei“, höhere Zahlen konnten sie nicht ausdrücken.
Es zeigte sich, dass die Homesigners diese Zahlen nicht nur nicht ausdrücken konnten, sondern auch nicht in der Lage waren, einfache Mengenvergleiche anzustellen. Als Ursache des Problems sehen die Forschenden, dass der Mangel an Zahlwörtern im Gebärdengebrauch auch das Verständnis der Taubstummen begrenzte. „Es sind nicht nur die Vokabeln wichtig, sondern das Verständnis für die Beziehungen, die den Worten unterliegen – die Tatsache, dass ‘acht’ mehr ist als ‘sieben’ und einer weniger als ‘neun’“, erklärt Susan Goldin-Meadow von der Universität von Chicago.