Viele leiden daran: chronische Schmerzen. Zwar ist die auslösende Erkrankung oft längst geheilt, der Schmerz bleibt aber dennoch. Heidelberger Forscher haben jetzt herausgefunden wieso: Ein altbekannter Botenstoff – das Kalzium – verändert das Zellprogramm bei anhaltenden Schmerzen derart, dass Nervenzellen unnötig viele Zellkontakte ausbilden. Das führt dazu, dass sie in der Folge auch auf leichte Reize extrem reagieren – ein Schmerzgedächtnis ist entstanden. Der neue Einblick könnte ein Schritt hin zu besseren Therapien sein, erklären die Wissenschaftler im Fachmagazin „Neuron“.
Oft hinterlassen starke, andauernde Schmerzen, wie sie etwa durch chronische Entzündungen, Nervenverletzungen, Bandscheibenvorfälle oder Tumore verursacht werden, bleibende Spuren im Nervensystem. Selbst wenn der ursprüngliche Auslöser ausgeheilt ist, können dann bereits leichte Reize wie Berührungen den früheren Schmerzzustand wieder hervorrufen: Der Körper hat ein sogenanntes Schmerzgedächtnis ausgebildet. Bislang gibt es jedoch keine befriedigende Therapie für chronisch schmerzkranke Patienten. Allein in Deutschland sind mehrere Millionen Menschen betroffen. Rohini Kuner und Hilmar Bading von der Universität Heidelberg haben nun einen der Mechanismen aufgeklärt, durch den chronische Schmerzen entstehen.
Übersensible Nerven
Das Geflecht der Nervenzellen im Körper übersetzt schmerzhafte Reize wie Hitze, Kälte, starken Druck oder Verletzungen in elektrische Signale, die über das Rückenmark an das Gehirn weitergeleitet und dort als Schmerzen wahrgenommen werden. Bei chronischem Schmerz werden die schmerzübermittelnden Nervenzellen im Rückenmark selbst durch schwache Reize schon aktiviert, verstärken diese und geben sie als Schmerzreiz an das Gehirn weiter. „Durch unsere Forschungsarbeiten der letzten Jahre wissen wir viel darüber, wie Nervenzellen im verletzten Gewebe sensibilisiert werden und dann ihre Aktivität verändern“, erklärt Kuner. „Aber alle diese schnellen und kurzzeitigen Prozesse können die lange Dauer chronischer Schmerzen nicht erklären.“
Das Team um Kuner und Bading fand des Rätsels Lösung nun in einem lange bekannten Universal-Botenstoff: Kalzium. Die Nervenzellen benötigen es für jede Signalweitergabe. Bei Eintreffen eines elektrischen Signals nehmen sie im Rückenmark Kalzium aus ihrer Umgebung auf und werden so aktiviert. Die Wissenschaftler entdeckten, dass bei sehr heftigen oder anhaltenden Schmerzen so viel Kalzium in die Zellen gelangt, dass es – was sonst nicht der Fall ist – in den Zellkern transportiert wird. Hier nimmt es Einfluss darauf, welche Bereiche der Erbinformation aktiviert oder deaktiviert werden.
Gen-Kombi vermittelt Schmerzgedächtnis
„Diese von Kalzium regulierten Gene sind der Schlüssel für die Chronifizierung von Schmerzen im Rückenmark, da sie dauerhafte Veränderungen anstoßen können“, ist Kuner überzeugt. Unter ihnen fanden die Forscher auch eine Familie von Genen, das sogenannte Complement System, die bisher nur mit Entzündungsprozessen des Immunsystems in Verbindung gebracht wurden. In den Nervenzellen des Rückenmarks sorgen diese Gene dafür, dass diese nur eine bestimmte Anzahl an Kontaktstellen (Synapsen) zu anderen Nervenzellen ausbilden. So wird der Grad der Vernetzung und damit die Intensität der Signalübertragung begrenzt.
Versuche an Nervenzellen im Labor zeigten: Wird die Genfamilie von Kalzium deaktiviert, bilden sich zusätzliche Synapsen, die Zelle wird empfindlicher. „Diese strukturelle Veränderung der Zellkontakte kann die dauerhafte Natur einer Vielzahl von Schmerzkrankheiten erklären“, so die Forscherin. Bei Mäusen zeigte sich zudem, dass sich trotz chronischer Entzündung kein Schmerzgedächtnis entwickelte, wenn die Wirkung des Kalziums im Zellkern der Nervenzellen blockiert wurde.
„Kalziumsignale im Zellkern von Nervenzellen gewinnen für die Forschung an der Steuerung von Hirnfunktionen immer mehr an Bedeutung. Sie sind eine Art Universalschalter, der immer dann zum Einsatz kommt, wenn Gehirnaktivität, zum Beispiel bei Lernprozessen, zum Aufbau eines Langzeitgedächtnisses führt“, erklärt Bading. „Nun zeigt unsere Studie, dass derselbe Schalter auch Schmerz in einen chronischen Zustand überführen kann.“ Diese Erkenntnisse und die Identifizierung von Schlüsselgenen, deren Produktion über den Kalzium-Schalter angestoßen wird, bieten neue Ansatzpunkte, um in Zukunft die Entstehung von chronischem Schmerz zu verhindern. (Neuron, 2013; doi: 10.1016/j.neuron.2012.10.037)
(Universitätsklinikum Heidelberg, 05.04.2013 – KBE)