Das Tsunami-Risiko für Millionenstädte wie Los Angeles oder Istanbul könnte deutlich höher sein als bisher angenommen. Analysen des Erdbebens von Haiti im Januar 2010 haben ergeben, dass der dortige Verwerfungstyp zehn Mal häufiger Tsunamis durch Unterwasser-Erdrutsche auslöst als erwartet. Statt nur drei Prozent liegt die Wahrscheinlichkeit an sich seitlich verschiebenden Transform-Störungen bei einem Drittel, wie Forscher jetzt in „Nature Geoscience“ berichten.
Am 12. Januar 2010 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7 Haiti. Das schwerste Beben in der Geschichte Nord- und Südamerikas forderte bis zu 300.000 Todesopfer und machte 1,2 Millionen Menschen obdachlos. Auslöser des Bebens war eine durch seitliche Verschiebungen gekennzeichnete Verwerfung an der Grenze zwischen Karibischer und Nordamerikanischer Platte. Solche auch als Strike-Slip-Verwerfungen bezeichneten tektonischen Störungen sind häufig Auslöser für Beben, galten bisher aber nicht als Tsunami-gefährlich.
Unterwasser-Erdrutsche als Tsunami-Auslöser
Doch im Falle von Haiti war dies anders: Innerhalb von Minuten folgten auf die Erdstöße mehrere Tsunamis, die mit teilweise neun Meter hohen Wellen ganze Küstenbereiche zerstörten. Aber warum? Bereits einige Wochen nach dem Beben machte sich ein Team von amerikanischen und haitianischen Geowissenschaftlern auf, um vor Ort nach den Ursachen dieser rätselhaften Tsunamis zu suchen. Mit Hilfe von Messungen per Boot und Forschungsschiff, aber auch zu Fuß untersuchten sie vor allem die Topographie des Meeresgrunds nahe dem Bebenherd und den betroffenen Küstengebieten.
Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass die meisten Tsunamis nicht durch das Beben selbst, sondern durch Unterwasser-Erdrutsche an den Küsten ausgelöst worden waren. Die Erdstöße destabilisierten das an steileren Unterwasserhängen aufgelagerte Sediment und die dadurch ausgelösten Rutschungen verdrängten innerhalb kürzester Zeit so viel Wasser, dass ein Tsunami ausgelöst wurde.
Risiko zehn Mal höher als erwartet
Brisanz erhält das Ergebnis aber vor allem durch die Häufigkeit der auf diese Weise erzeugten Tsunamis: Ein Vergleich mit historischen Daten enthüllt, das rund ein Drittel aller Tsunamis in dieser Region durch Unterwasser-Erdrutsche ausgelöst wird – bisher gingen Geoforscher immer nur von rund drei Prozent aus. „Wir stellten fest, dass die Tsunamis rund um Haiti rund zehn Mal wahrscheinlicher auf diese Weise generiert werden als wir es erwartet haben“, erklärt Matt Hornbach, Geophysiker der Universität von Texas in Austin und Hauptautor der Studie. „Damit haben wir alle das Tsunami-Potenzial solcher Verwerfungen unterschätzt.“
Küsten-Metropolen in Gefahr
Das aber bedeutet, dass auch andere Küstenstädte weltweit stärker durch Tsunamis gefährdet sind als bisher angenommen. So liegt beispielsweise die Millionenstadt Los Angeles ebenfalls in der Nähe einer sich seitlich verschiebenden „Strike-Slip“-Verwerfung, ebenso Kingston auf Jamaika oder die türkische Großstadt Istanbul.
„Das Beängstigende daran ist, dass man kein großes Erdbeben braucht, um einen großen Tsunami auszulösen”, so Hornbach. „Organisationen, die Tsunamiwarnungen herausgeben, schauen normalerweise nach großen Beben an kollidierenden Plattenrändern. Jetzt sehen wir, dass es dies gar nicht braucht. Schon ein mittleres Erdbeben an einer Transform-Störung kann Grund für einen Alarm geben.“
Als nächstes wollen er und seine Kollegen die Situation und Tsunamigefahr in Jamaika untersuchen. „Die Geologie von Kingston, Jamaika, ist nahezu identisch zu der im haitianischen Port au Prince“, erklärt Hornbach. „Es ist entsichert und könnte jederzeit losgehen. Die Menschen dort müssen sich darauf vorbereiten. Die gute Nachricht ist, dass sie einen Vorsprung haben, weil sie sich nun des Problems bewusst sind.“
(University of Texas at Austin, 12.10.2010 – NPO)