Möglicherweise muss unser Bild des Gehirns umgeschrieben werden. Denn amerikanische Forscher haben jetzt an Ratten gezeigt, dass die Verschaltung verschiedener Areale miteinander nicht hierarchisch ist, wie bisher angenommen, sondern eher dem dezentralen System des Internets gleicht. Die jetzt in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences” (PNAS) erschienene Studie basiert auf einer neuen Methode, die auch weitergehende Analysen der neuronalen Verbindungen ermöglicht.
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Die Struktur des Gehirns ist schon seit mindestens einem Jahrhundert bis in die kleinste Windung kartiert, beschrieben und dokumentiert. Aber wie seine einzelnen Bereiche miteinander wechselwirken, um das zu erzeugen, was wir als Denken und Bewusstsein empfinden, ist nach wie vor größtenteils unbekannt. Neurowissenschaftler sind gespalten darüber, ob das Gehirn eher hierarchisch organisiert ist und die meisten Regionen von höheren Zentren kontrolliert werden, oder aber ob es eher einem Netzwerk mit verteilten Knoten entspricht, ähnlich dem Internet.
Signale beider Richtungen abgefangen
Jetzt haben Wissenschaftler der Universität von Südkalifornien diese Streitfrage zumindest für einen kleinen Ausschnitt des Rattengehirns beantwortet. Sie entwickelten dafür eine neue Methode, um Schaltkreise im Gehirn zu identifizieren. Während die meisten vorhergehenden Studien nur jeweils ein Signal registrierten, das ausgesendete oder das ankommende, gelang es den Forschern mit Hilfe des so genannten „Circuit Tracing“ für jedes Gehirnzentrum Signale beider Richtungen abzufangen.
„Wir können damit bis zu vier Verbindungen pro Schaltkreis ausfindig machen, in einem Tier zur selben Zeit. Das war unsere technische Innovation“, erklärt Larry W. Swanson, Professor für Biologie der Universität von Südkalifornien. Die Forscher nutzten die Methode, um im Gehirn von Ratten Schaltkreise der Region zu identifizieren, die für den Genuss der Nahrung zuständig ist.
Schleifen statt hierarchisches Organigramm
Das resultierende Diagramm der „Verschaltungen“ war überraschend anders als landläufig angenommen. Statt einer geordneten hierarchischen Struktur fand sich ein Muster von Schleifen, eine Struktur, die dem Schaltbild eines Netzwerks für das verteilte Rechnen glich. „Wir haben an einer Stelle begonnen und uns die Verbindungen angeschaut”, so Swanson. „Es ergibt sich kein Organigramm. Es gibt kein Oben und Unten darin.“
Erklärung für Plastizität des Gehirns?
Diese nicht-hierarchische Struktur, die Swanson bereits 2003 als theoretisches Modell postuliert hatte, könnte auch erklären, warum das Gehirn so flexibel auf lokale Schäden reagieren kann. „Man kann fast jeden Teil des Internets einzeln stillegen, trotzdem funktioniert der Rest“, so der Neurobiologe. „Auch im Nervensystem gibt es normalerweise immer alternative Signalwege. Es ist schwer zu sagen, welcher Teil wirklich absolut essenziell ist.“
Seiner Ansicht nach sprechen die jüngsten Ergebnisse für den alternativen Ansatz einer nicht-hierarchischen Struktur des Gehirns – wenigstens in einigen Bereichen. „Es ist noch nicht bewiesen, aber der traditionelle Weg, die Funktion des Gehirns zu betrachten, sollte neue gedacht werden“, so Swanson. „Der Teil des Gehirns, mit dem wir denken, der Cortex, ist sehr wichtig, aber er ist sicher nicht der einzige Teil des Nervensystems, der unser Verhalten bestimmt.“
Ob er mit seiner These richtig liegt, könnte sich schon bald zeigen. Denn die amerikanische Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH) hat bereits angekündigt, 30 Millionen Dollar bereitzustellen für eine Kartierung des menschlichen „Connectoms“ – der Entschlüsselung der gesamten Verschaltung unseres Gehirns.
(University of Southern California, 10.08.2010 – NPO)