In den Nervenzellen der Hirnrinde werden sowohl Reize aus den Sinnesorganen als auch Erinnerungen verarbeitet. Berner Forscher haben nun herausgefunden, dass Nervenzellen auch als "Unterdrücker" von bestimmten Impulsen fungieren. Ohne diese hemmende Funktion, so die Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Neuron", wäre unser Gehirn von den dauernden Informationsströmen überfordert.
Die Hirnrinde besteht aus einer wenige Millimeter dünnen Schicht aus Nervenzellen und ist für die Verarbeitung von unzähligen Nervensignalen zuständig. Einerseits erhalten große Nervenzellen, die so genannten Pyramidenzellen, Signale aus den Sinnesorganen. Andererseits erhalten sie auch Informationen aus anderen Hirnarealen wie Erinnerungen, um die Sinnesinformationen richtig interpretieren und weiterleiten zu können.
Impulse aus den Sinnesorganen werden als so genannte "Bottom-up-Information" bezeichnet, solche aus übergeordneten Hirnbereichen wie Erinnerungen als "Top-down- Information". Diese getrennten Informationsströme erregen die Pyramidenzellen in zwei verschiedenen Bereichen, die eine unterschiedliche Struktur und Funktion aufweisen.
Erhält eine Nervenzelle jedoch gleichzeitig Informationen aus einem Sinnesorgan und übergeordneten Hirnarealen, muss sie "umdisponieren": Den gleichzeitigen Eingang von "Top-down-" und "Bottom-up-Information" beantwortet die Pyramidenzelle mit einem stark erhöhten Erregungszustand, der durch einen Einstrom von Kalzium-Ionen in die Pyramidenzelle ausgelöst wird.
Professor Matthew Larkum und seine Mitarbeiter am Institut für Physiologie der Universität Bern konnten nun erstmals zeigen, dass hemmende Nervenzellen in der Hirnrinde "Top-down"-Signale selektiv unterdrücken können. Diese hemmenden Nervenzellen schütten eine chemische Substanz aus (GABA = Gamma-Amino-Buttersäure), die über spezifische Rezeptoren den Kalziumeinstrom in die Pyramidenzellen verhindern. Die "Top-down-Information" wird somit vollständig unterdrückt. In mehrjähriger Arbeit gelang es den Forschern, die zellulären und molekularen Prozesse, welche diesem Veto-Mechanismus zugrunde liegen, zu charakterisieren.
Unterdrückte Impulse ermöglichen eine bewusste Wahrnehmung
Die Studienergebnisse erlauben nach Angaben der Forscher eine neue Sicht auf die Funktionsweise des Gehirns. "Wir konnten aufzeigen, wie hoch spezifisch, zeitlich und räumlich präzise orchestriert die Hemmungsmechanismen im Gehirn eingesetzt werden, um den ununterbrochenen Erregungsstrom aus den Sinnesorganen und den höheren Hirnregionen zu regulieren", erklärt Professor Hans-Rudolf Lüscher vom Institut für Physiologie. Diese Vorgänge erlauben eine gerichtete Aufmerksamkeit sowie die Einbindung von Sinneseindrücken zu einer einheitlichen Wahrnehmung. "Ohne diese Hemmungsmechanismen", so Lüscher, "wären alle sensorischen Hirnrindenareale maximal erregt, ähnlich einem elektrischen Gewitter".
Dies würde eine bewusste und differenzierte Wahrnehmung unserer Umwelt unmöglich machen. Aufbauend auf diesen Resultaten, die an einem In Vitro-Präparat gewonnen wurden, wollen die Forscher Larkum in einem nächsten Schritt untersuchen, wie diese zellulären Mechanismen das Verhalten eines intakten Organismus beeinflussen.
Nervenzellen: bestens vernetzt
Die menschliche Hirnrinde bedeckt das Gehirn und besteht aus einer wenige Millimeter dicken Schicht von Nervenzellen. In dieser hochkomplexen Struktur verarbeitet das Gehirn den ununterbrochenen Zustrom von Nervensignalen aus den Sinnesorganen und konstruiert daraus ein Abbild der Welt, die uns umgibt. Eindrücke von Farbe, Form oder Bewegung werden in verschiedenen, teilweise weit auseinander liegenden Hirnarealen verarbeitet.
Damit im Gehirn eine einheitliche Wahrnehmung zustande kommt, müssen die elementaren Sinnesinformationen wie beispielsweise Farbe oder Form zu einer übergeordneten, funktionellen Einheit zusammengebunden werden. Dieses Zusammenführen der verschiedenen Informationsströme wird durch einen zellulären Mechanismus realisiert, der die Nervenzellen in einen speziellen Zustand versetzt, sobald sie Informationen aus unterschiedlichen Hirnstrukturen gleichzeitig erhalten. Die Sinnesinformation wird auch anhand von Erfahrungen aus dem Gedächtnis interpretiert. Zudem wird uns nicht jede Sinnesinformation auch bewusst, sondern nur diejenige, worauf das Gehirn seine Aufmerksamkeit lenkt.
(idw – Universität Bern, 22.05.2006 – DLO)