Wenn wir Erfahrungen sammeln und lernen, verändert sich nicht nur unser Denken, auch die Morphologie unserer Nervenzellen wandelt sich. Vor allem die Ausbildung dornenartiger Strukturen ist mit funktionalen Änderungen in der neuronalen Plastizität verbunden. Jetzt ist es Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried erstmals gelungen, die Bedingungen zu identifizieren, unter denen Nervenzellen diese zusätzlichen Dornen wieder zurückbilden.
Dieser Prozess könnte eine Grundlage für das Löschen bestimmter Gedächtnisinhalte, also das Vergessen sein. Darüber hinaus konnten die Wissenschaftler aus der Abteilung von Tobias Bonhoeffer in einer zweiten Studie zeigen, wie die Eingänge von Nervenzellen sich gegenseitig beeinflussen und miteinander um die Weiterleitung von Information konkurrieren.
„Dornen“ des Erinnerns
Obwohl das Gehirn bei weitem nicht die Schnelligkeit eines Computers erreicht, ist es in seiner Lernfähigkeit und seinem Erinnerungsvermögen unübertroffen. Grundlage dafür ist die flexible Vernetzung der über 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns. Neurowissenschaftler wissen schon lange, dass die Verschaltung der Nervenzellen untereinander nicht statisch ist, sondern an eine sich ständig ändernde Umwelt angepasst wird. Über zehn bis 100.000 Dornen, spezifische mikroskopische Auswüchse auf ihren Eingangsstrukturen, steht jede Nervenzelle mit anderen Nervenzellen in Kontakt. Die Kontaktstellen, auch Synapsen genannt, können auf- und abgebaut sowie in ihrer Intensität verstärkt oder abgeschwächt werden. Diese Anpassungsfähigkeit des Zentralen Nervensystems wird Plastizität genannt.
1999 konnten Tobias Bonhoeffer und seine Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried erstmals mikroskopisch beobachten, wie Nervenzellen nach intensiver elektrischer Reizung, die im Experiment eine erhöhte Aktivität der Zellen simuliert, ihre Gestalt verändern und dabei dornenartige Strukturen bilden, so genannte „spines“. Die Wissenschaftler nehmen an, dass diese Dornen als Prozessoren am Aufbau weiterer Synapsen zu den benachbarten Nervenzellen beteiligt sind – sie regeln quasi den synaptischen Input einer Nervenzelle.
Bei hoher Reizfrequenz werden an den beteiligten Synapsen auf der Senderseite verstärkt Botenstoffe ausgeschüttet und auf Empfängerseite verstärkt die entsprechenden Rezeptoren eingebaut. Dadurch wird eine bessere Reiz- beziehungsweise Informationsübertragung möglich – die Datenautobahn wird quasi vergrößert. Die Wissenschaftler nennen das „Langzeitpotenzierung“ oder kurz: LTP. Eine solche „Autobahn“ kann über mehrere Stunden, Tage, ja sogar Wochen bestehen bleiben und ermöglicht so eine bessere Reaktion auf Folgereize. Die Langzeitpotenzierung gilt als eine der zellulären Voraussetzungen für die Speicherung von Information im Zentralen Nervensystem und damit auch für die Plastizität des Gehirns.
Wenn die Datenautobahn verengt ist…
Für den entgegengesetzten Effekt, die Verkleinerung oder das völlige Verschwinden der Dornen, fehlte bisher jeder Nachweis. In ihren neuesten Studien konnten Valentin Nägerl, Nicola Eberhorn, Sidney Cambridge und Tobias Bonhoeffer nun genau diese Rückbildung der Dornen im Zuge einer Stimulation mit niedriger Reizfrequenz beobachten. Diese „Langzeitdepression“, kurz LTD, führt normalerweise zu einer „Verengung der Datenautobahn“ zwischen den Nervenzellen über Stunden oder Tage.
Die Neurobiologen untersuchten Nervenzellen in Gewebekultur, die aus dem Hippocampus stammten, einer Hirnregion, die maßgeblich an Gedächtnisvorgängen beteiligt ist. Einzelne Nervenzellen in dieser Gewebekultur waren mit einem fluoreszierenden Farbstoff (dem GFP oder „green fluorescent protein“) markiert. Diese Zellen wurden mit einem hoch auflösenden Fluoreszenzmikroskop, einem so genannten 2-Photonen-Laser-Scanning-Mikroskop betrachtet.
Konkurrenz der Wege
In einer zweiten Studie, die in Kooperation mit Richard Morris vom Centre for Neuroscience der Universität Edinburgh durchgeführt wurde, konnten Rosalina Fonseca, Valentin Nägerl und Tobias Bonhoeffer zeigen, dass Synapsen, die durch intensive Reizung verstärkt wurden, miteinander in einen Wettstreit um Botenstoffe treten. Die Experimente wurden an Hirnschnitten des Hippocampus mit intakten Nervenverknüpfungen durchgeführt. Rosalina Fonseca stimulierte zwei unabhängige Signalwege, die zu einer gemeinsamen Zielzelle führen, sodass an beiden Wegen eine Langzeitpotenzierung aufgebaut wurde. Mit einer chemischen Substanz (Anisomycin) blockierte sie dann die Synthese der Signalproteine, die für die Verstärkung von Synapsen wichtig sind, und stimulierte die Nervenzellen erneut.
Die Neurobiologin stellte fest, dass Synapsen des Signalweges, der bei der ersten Aktivierung eine stärkere Langzeitpotenzierung aufgebaut hatte, auf den zweiten, „schwächeren Signalweg“ eine negative Auswirkung hatte. Dieser zweite Weg wurde plötzlich in seiner Aktivität schwächer. „Offensichtlich zieht der ‚stärkere’ Signalweg Ressourcen vom ‚schwächeren’ Weg ab, und letzterer wird dadurch geschwächt“, erklärt die junge portugiesische Doktorandin. Je länger die Proteinsynthese blockiert und damit auch die Konkurrenz um Botenstoffe erhöht wurde, desto stärker war die Hemmung.
Auch die räumliche Entfernung der Signalwege voneinander spielte eine Rolle: Je weiter die beiden Signalwege voneinander entfernt waren, desto weniger ausgeprägt war die Konkurrenz um Botenstoffe. „Wir konnten damit zeigen, dass auch auf der Ebene der Nervenzellen Mechanismen existieren, die bereits aus Hirnstudien bekannt sind: Bereiche, die aktiver an Lernen und Gedächtnis beteiligt sind, können Bereiche, die weniger aktiv sind, hemmen“, erklärt der Leiter der Abteilung, Tobias Bonhoeffer. Auch dies könnte zum Löschen nicht mehr benötigter Informationen und damit zum Vergessen führen.
(MPG, 21.12.2004 – NPO)