Ein Material, das dicker wird, wenn man daran zieht, scheint den Gesetzen der Physik zu widersprechen. Der sogenannte auxetische Effekt, der auch in der Natur vorkommt, ist jedoch für eine Vielzahl von Anwendungen interessant. Eine neue, vor kurzem im Fachblatt «Nature Communications» veröffentlichte Studie der Empa zeigt nun, wie sich das erstaunliche Materialverhalten weiter steigern lässt – und sogar für die Behandlung von Verletzungen und Gewebeschäden genutzt werden kann.
Die Natur macht es vor: Ein Kälbchen, das am Euter der Mutterkuh Milch saugt, nutzt eine faszinierende physikalische Eigenschaft der Kuhzitze: Diese besteht nämlich aus einem auxetischen Gewebe. Paradoxerweise werden derartige Gewebe nicht schmaler, wenn sie unter Zugwirkung stehen wie etwa ein Gummiband, sondern breiter, und zwar quer zur Zugrichtung. Und so kann die Kuhmilch ungehindert durch die Zitze strömen. Materialforscher der Empa haben die erstaunlichen auxetischen Eigenschaften nun auch bei eigens dafür entwickelten Membranen aus Nanofasern nachgewiesen. Die im Fachblatt «Nature Communications» veröffentlichte Studie weist auf vielfältige Anwendungen auxetischer Materialien hin. Eines davon ist der Einsatz der Membranen zur Regeneration von menschlichem Gewebe nach Verletzungen.
Hauchzarte Fäden
Verletzungen der Haut oder Gewebeschäden an inneren Organen heilen, indem unter anderem Zellen einwandern, sich niederlassen und ein gesundes Ersatzgewebe bilden. Was bei einem kleinen Schnitt am Finger in Kürze erledigt ist, kann jedoch bei komplexen Wunden, etwa Verbrennungen, oder dort, wo ein voluminöserer Ersatz nötig ist, die Möglichkeiten des Körpers übersteigen.
Doch der Geweberegeneration kann geholfen werden: Gibt man ein passendes Gerüst vor, nisten sich die erwünschten Zellen leichter ein und wachsen den vorgegebenen Strukturen entlang. Empa-Forscher des «Biomimetic Membranes and Textiles»-Labors in St. Gallen haben nun neuartige Matrixsysteme für Körperzellen entwickelt, die über auxetische Eigenschaften verfügen. Mittels sogenanntem Elektrospinning werden gelöste Polymere als hauchdünne Fäden in der Form ähnlich der menschlichen extrazellulären Matrix versponnen. So lassen sich mehrschichtige Membranen aus Nanofasern herstellen, die gut bioverträglich sind und sich in den menschlichen Körper einsetzen lassen. «Verwendet man Biopolymere wie Polymilchsäuren für den Spinnprozess, sind die Membranen sogar im Körper abbaubar», erklärt Empa-Forscher Giuseppino Fortunato. Zudem lassen sich Botenstoffe und Medikamente für eine kontrollierte und minimierte Abgabe in die Fasern einlagern.
Attraktive Porengrösse
Eine der Herausforderungen war bisher, die Porengrösse in der gesponnenen Membran möglichst attraktiv für die gewünschten Körperzellen zu gestalten. Bei den ursprünglichen Membranen liessen die Polymerfäden lediglich winzige Poren von wenigen Mikrometern frei. Eine Gewebezelle, die das Gerüst besiedeln soll, ist mit ihren bis zu 20 Mikrometern jedoch deutlich zu gross, um in der Membran optimal Platz zu finden.
Die Lösung bot das erstaunliche Polymernetzwerk, nachdem die Spinnparameter optimiert wurden: Als die Membran sanften Zugkräften ausgesetzt wurde, so dass sie sich um etwa 10 Prozent verlängerte, nahm das Volumen des Materials, statt gleichzeitig dünner zu werden, auf das 5-fache, die Dicke gar um das 10-fache zu. «Ein auxetischer Effekt dieser Grössenordnung ist geradezu weltrekordverdächtig», schwärmt Empa-Forscher Alexander Ehret vom «Experimental Continuum Mechanics»-Labor. Ehret und sein Team hatten den aussergewöhnlichen Effekt zunächst anhand einer mechanischen Modellierung vorhergesagt und am Computer simuliert, bevor sie die Membranproben experimentell analysierten. «Wir haben die Simulationen am Computer mehrmals durchgespielt, weil die Ergebnisse so überraschend waren», so Ehret. Der auxetische Effekt, der sich mathematisch durch das Verhältnis von Querdehnung zu Längsdehnung – die sogenannte Poisson-Zahl – quantifizieren lässt, resultiert in negativen Werten für ebendiese Poisson-Zahl. «Bisher wurden Werte um -20 erreicht. Unsere Ergebnisse lagen deutlich unter -100», sagt der Biomechanik-Experte.
In den Zugversuchen verhielten sich die Polymermembranen dann tatsächlich so wie zuvor simuliert. Erklärbar ist der Effekt durch Fasern, die sich unter Zug neu ausrichten und dabei Druck auf ihre querliegenden Kollegen im Netzwerk ausüben. Je nach Länge und Dicke knicken die bedrängten Fasern darum gezwungenermassen nach unten und oben aus und führen so zur Volumenzunahme.
„Expand on demand“
Grundsätzlich eignen sich elektro-gesponnene Membranen für die Behandlung von Wunden und Gewebeschäden an so unterschiedlichen Orten wie auf der Haut, in Blutgefässen und inneren Organen oder bei Knochenverletzungen. Durch die geeignete Auswahl der Polymere und optimierte Spinnparameter kann die Polymermembran an die Eigenschaften des Zielgewebes angepasst werden. «Dank des grösseren Volumens durch den auxetischen Effekt sind die Matrixstrukturen für die Körperzellen nun noch attraktiver und könnten den Heilungsprozess begünstigen», sagt Giuseppino Fortunato.
Neben dem Einsatz in der Biomedizin lässt sich das bereits zum Patent angemeldete Konzept aber auch in zahlreichen anderen Gebieten anwenden. Durch Zug aktivierbare Membranen, die eingeschlossene Partikel bei Bedarf freigeben, regulierbare Filter oder Füllmaterial, das sich erst am Einsatzort auf sein volles Volumen «ziehen» lässt, also quasi «Expand on demand», seien weitere Einsatzgebiete, so die Forscher.
Die Struktur von Nanofasern
Die innere Struktur der einzelnen Nanofasern hat einen grossen Einfluss auf die Eigenschaften der Membranen. Behandelt man Nanofasern mit bestimmten Lösungsmitteln, kann die Struktur der Nanofasern aufgeklärt werden. Der Empa-Forscher Alexandre Morel hat nun herausgefunden, dass je nach verwendeten Spinnparametern unterschiedliche Faserstrukturen wie fibrilläre oder sogenannte Shish-Kebab-Phasen resultieren. Shish-Kebab-Strukturen erscheinen im Elektronenmikroskop als gestapelte Schichten, die einem Döner-Drehspiess ähneln. Sie haben einen grossen Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften der Membranen und somit auch auf den auxetischen Effekt.
Quelle: Empa – Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt , Andrea Six