Alexandria, Anfang März 415. Es ist Fastenzeit, eigentlich eine Zeit der Einkehr und Buße vor dem christlichen Osterfest. Doch in der Metropole am Mittelmeer dreht sich die Spirale der Gewalt, angetrieben von Patriarch Kyrill und seinen Anhängern, unvermindert weiter. Noch immer steht seine Privatarmee der Parabolani im Mittelpunkt der meisten blutigen Auseinandersetzungen.
Einen ersten Höhepunkt erreichen die Konflikte, als die Miliz einen direkten Anschlag auf Orestus, den römischen Präfekten der Stadt unternimmt. Das Attentat scheitert und der Täter wird von Orestus gefoltert und getötet. Kyrill kontert, indem er sich der Leiche bemächtigt und den Mann umgehend zum Heiligen erklärt. Damit tritt der Krieg zwischen den weltlichen, gemäßigten Kräften, deren Vertreter Orestus ist, und dem fanatischen Christentum des Kyrill endgültig offen zu Tage.
Blutiges Ende einer großen Gelehrten
Wenige Tage später geht der fanatisierte Mob auch auf Hypatia los: „Daher lauerten ihr einige, die von einem wilden und scheinheiligen Ehrgeiz getrieben wurden, deren Anführer ein Vorleser namens Petros war, auf ihrem Heimweg auf, zogen sie aus ihrer Kutsche, brachten sie in die Kirche namens Kaisarion, wo sie sie nackt auszogen und sie dann mit Ziegelsteinen erschlugen. Nachdem sie ihren Körper in Stücke gerissen hatten, brachten sie ihre verstümmelten Glieder zu einem Ort namens Kinaron und verbrannten sie dort“, so der Bericht des Sokrates Scholastikus.
Er, der Zeitgenosse Hypatias und immerhin christlicher Theologe, kann diese Tat kaum fassen: „Diese Sache brachte eine nicht geringe Schmach, nicht nur über Kyrill, sondern über die ganze Alexandrinische Kirche. Und mit Sicherheit kann nichts weiter vom Geiste des Christentums entfernt sein, als derartige Massaker, Gewalttaten und Misshandlungen zuzulassen!“
Auftragsmord oder entfesselter Lynchmob?
Dieser Ansicht sind allerdings bei weitem nicht alle christlichen Historiker. Im 7. Jahrhundert sieht der koptische Bischof Johannes Nikiu den Mord als wohlverdiente Strafe und den Mörder als „rechtgläubigen Anhänger Jesu Christi“. Denn schließlich habe Hypatia „das Volk und den Präfekten durch ihre Zauberkünste behext.“ Er beschreibt in seiner Weltchronik die Reaktionen nach der Tat so: „Und alles Volk versammelte sich um den Patriarchen Kyrillos und nannte ihn den neuen Theophilus dafür, dass er die letzen Reste der Götzenverehrung in der Stadt zerstört hatte.“
Welche Rolle Kyrill tatsächlich beim Tod der Hypatia spielte, ist bis heute ungeklärt. Historiker streiten sich seit Jahrhunderten darüber, ob er den Befehl für ihre Ermordung gab oder ob der Anführer des Lynchmobs ohne seinen Auftrag handelte. Klar ist, dass er die Tat zumindest billigte. Klar ist auch, dass der Tod der Hypatia, einer wehrlosen, zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits 60-jährigen Frau, in keinster Weise geahndet wird. Es gibt keine Festnahmen oder Anklagen.
Und das Ende des antiken Alexandria
Für Alexandria, das kulturelle und geistige Zentrum der Antike, bedeutet Hypatias Tod das Ende einer Ära. Nach der Zerstörung der Bibliothek, der Schließung und Verwüstung vieler ihrer Lehrstätten und Tempel, stirbt nun mit der Leiterin des Museion auch ihre berühmteste Repräsentantin der freien Wissenschaft. Nach ihrem Tod erlischt die neoplatonische Schule in Alexandria, die meisten übrig bleibenden Gelehrten wandern ab nach Athen.
Kyrill dagegen wird nach seinem Tod von der Kirche umgehend heiliggesprochen – für seine Verdienste um die Lehre der Kirche und seinen Kampf gegen die Häresie…
Nadja Podbregar
Stand: 11.03.2010