Was sind die Ursachen für die weiter steigende Lebenserwartung? Stehen die sozialen Sicherungssysteme durch den demografischen Wandel vor dem Kollaps? Und vor allem: Wie können wir uns an die neue Situation anpassen? Das sind einige der wichtigsten Fragen, mit denen sich die Rostocker Wissenschaftler beschäftigen. Und bei der Suche nach den richtigen Antworten kommt ihnen manchmal sogar das Schicksal zu Hilfe.
Mauerfall als „Experiment“
So wie vor etwa 20 Jahren, als durch den politischen Umbruch in Deutschland quasi ein natürliches Experiment direkt vor ihrer Haustür gestartet wurde: Im November 1989 fällt die Mauer. Nach 40 Jahren Trennung sind die Deutschen in Ost und West endlich wieder vereint. Und doch gibt es vieles, was sie noch trennt. Das gilt nicht nur für Automarken, CD-Player und andere Wohlstandsgüter, sondern auch für die Lebenserwartung. Denn in der ehemaligen DDR liegt diese bei Männern rund drei Jahre und bei Frauen immerhin zwei Jahre unter der in Westdeutschland.
Heute, über zwei Jahrzehnte später, sieht die Situation ganz anders aus. Zwar ist die Lebenserwartung in den alten Bundesländern noch immer etwas höher als in den neuen, doch die Unterschiede sind entscheidend geschrumpft. So beträgt der Abstand bei neugeborenen Jungen nur mehr 1,3 Jahre (Westen: 77,4 Jahre, Osten 76,1 Jahre), bei den Mädchen sind es sogar nur noch drei Monate zugunsten der im Westen auf die Welt gekommenen Kinder.
Bessere gesundheitliche Versorgung
Doch was sind die Gründe für diese erstaunliche Aufholjagd? Die Max-Planck-Forscher Eva Kibele und Rembrandt Scholz wollten es genau wissen und sind deshalb auf eine demografische Zeitreise gegangen. Dabei haben sie die sogenannten vermeidbaren Sterbefälle bei Menschen unter 75 Jahren in Ost und West untersucht – also die Todesfälle, die durch effektive und rechtzeitige medizinische Versorgung oder Prävention vermeidbar gewesen wären.
Gab es zwischen 1990 und 1994, also kurz nach der Wende, noch große Unterschiede zwischen „Wessis“ und „Ossis“, die die Lebenserwartung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erheblich gesenkt haben (bei Männern um rund 1,5 Jahre, bei Frauen um 0,5 Jahre), so sind diese zehn Jahre später weitgehend verschwunden. Das Fazit der Demografen: Die Einführung des teuren, aber auch leistungsfähigen westlichen Gesundheitssystems nach der Wiedervereinigung hat sich für den Osten ausgezahlt – und zwar in Lebensjahren.
Mehr Wohlstand
Das gilt übrigens auch für die Über-80-Jährigen. Deren Risiko zu sterben, lag zu DDR-Zeiten ebenfalls deutlich über dem Gleichaltriger im Westen. Nach der politischen Neuordnung passte sich die Sterbewahrscheinlichkeit der ostdeutschen Geburtsjahrgänge 1895, 1900, 1905 und 1910 innerhalb weniger Jahre dem niedrigen westdeutschen Niveau an. Dabei spielten nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch Einkommen und materieller Wohlstand eine wichtige Rolle.
„Die verbesserte finanzielle Situation der alten Menschen in Ostdeutschland nach Einführung des westdeutschen Rentensystems hat sicher dazu beigetragen, dass ihre Sterblichkeit nach 1990 gesunken ist“, meinen Heiner Maier und Rembrandt Scholz. Für Veränderungen der Lebensbedingungen, die sich lebensverlängernd auswirken, scheint es demnach selbst im fortgeschrittenen Alter von 80 oder 90 Jahren noch nicht zu spät zu sein.
maxwissen, GEOMAX 16 / Dieter Lohmann
Stand: 23.07.2010