In einer Region mit 200 Erdbeben pro Jahr ein 508 Meter hohes Gebäude zu errichten, ist mutig. Den Turm auch noch mit 120.000 Quadratmetern Glas zu verkleiden, scheint geradezu waghalsig. Trotzdem ragt das Taipei Financial Center seit Ende 2003 als höchstes Bauwerk der Welt in der taiwanesischen Hauptstadt auf und setzt sich mit seiner filigranen Glasfront unbeeindruckt über Zweifel und Schwerkraft hinweg.
Vorsicht Bruchzone
Der Standort für das Taipei 101, wie es nach der Anzahl seiner Stockwerke kurz genannt wird, könnte ungünstiger nicht sein. In Taiwan gehören Erdbeben zum Alltag. Die Insel liegt genau da, wo sich die Philippinische Platte permanent unter die Eurasische Kontinentalplatte schiebt. Nur 200 Meter vom Taipei 101 entfernt verläuft die Taipei-Verwerfung, eine Bruchzone, die sich allerdings laut Expertenauskunft seit 45.000 Jahren nicht mehr gerührt hat. Zudem wurde der Wolkenkratzer auf sumpfigem Schwemmland errichtet, festes Gestein findet sich hier zum Teil erst 60 Meter unter der Erdoberfläche. Um dem Büroturm Standfestigkeit zu verleihen, rammte man deshalb 557 Stahlbetonpfeiler in den Boden, einige bis zu 80 Meter tief. Die Konstruktion soll so allen Katastrophen standhalten, die die Konstrukteure für denkbar hielten.
Acht Stahlpfeiler von je sechs Quadratmetern Grundfläche bilden das Außenskelett. In jeder achten Etage sind die Pfeiler mit dem durchgängigen Kern im Innern des Hochhauses verbunden. Ein riesiges Pendel soll den in Maßen elastischen Turm im Lot halten. Das Perpendikel dieses Pendels ist eine vergoldete Kugel aus Stahl, 730 Tonnen schwer, so viel wie sechs Dieselloks. Die Kugel wird kurz vor der offiziellen Eröffnung des Bauwerks am Ende des Jahres 2004 freischwingend in der 92. Etage aufgehängt und soll die Bewegungen des Turms ausbalancieren. Das Pendel ist der größte Schwingungsdämpfer dieser Art weltweit.
Flexible Fenster für Windstärke 13
„Für die Fassade aus Glas, Stahl und Aluminium sind jedoch nicht Erdbeben das größte Problem“, erläutert Klaus Lother von der Josef Gartner GmbH aus dem bayrischen Gundelfingen. Seine Firma hat die Glasfassade mit einer Gesamtfläche von 20 Fußballfeldern für den Wolkenkratzer in Taipei gebaut. Viel gefährlicher sei der Wind, der schon mal mit 250 Kilometer pro Stunde und der Kraft eines Taifuns am Turm zerren und rütteln kann und vor allem in den obern Etagen eine Dauerbelastung darstellt. Eine Tonne Druck- und Zuglast pro Quadratmeter müssten die Glasscheiben deshalb aushalten, so der Glasbauexperte.
Die 250 Kilogramm schweren Fassadenelemente bieten durch einen Aluminiumrahmen Schutz für das zerbrechliche Baumaterial. Die Scheiben sind im Rahmen flexibel aufgehängt, so dass sie nachgeben, wenn der Wind dagegen drückt oder die gesamte Fassade ins Wackeln gerät. Gepuffert werden die Glasscheiben durch Neopren, das die Fenster auch gleichzeitig abdichtet.
Intelligente Fensterfront
„Für den Energiehaushalt von Gebäuden ist Glas mittlerweile das ausschlaggebende Material“, schätzt Klaus Lother den Rang des „Faktors Glas“ ein. Denn neben der Verführung zur architektonischen Einmaligkeit, übernimmt Glas heute eine Reihe von Funktionen, die weit über die bloße Beleuchtung hinausgehen. Moderne Glasfassaden sind Windschutz, Sonnenblende, Schallschutz und Klimaanlage in einem, ohne dass aufwendige zusätzliche Bauteile notwendig wären – das Glas selbst reguliert Raumtemperatur und Lichteinfall. Möglich wird das durch „intelligente“ Beschichtungen, die je nach Temperatur das gesamte Sonnenlicht passieren lassen oder nur die Wärmestrahlung herausfiltern und reflektieren. So werden die Räume an warmen Tagen mit viel Sonne nicht zusätzlich aufgeheizt, ist es draußen kalt, dient das Sonnenlicht gleichzeitig als Heizung. Ebenso kann die Beschichtung aus winzigen Lochschablonen bestehen, die das einfallende Licht brechen und so für Schatten sorgen.
Zweite Haut senkt Energiebedarf
Die Fenster am Taipei 101 bestehen aus insgesamt 32 Millimeter starkem Isolierglas: Die äußere Scheibe ist getönt und verfügt zudem über eine Schicht, die das Sonnenlicht nach außen zurückwirft, die innere Glasscheibe ist normales Fensterglas, dazwischen liegt ein gasgefüllter Zwischenraum für die Wärmedämmung. So wollen die Fassadenbauer der Überhitzung in den Büros vorbeugen. Diese Konstruktion ist vergleichsweise simpel. An vielen anderen Bauwerken sind heute schon „Zweite-Haut-Fassaden“ im Einsatz, bei denen vor die eigentlichen Fenster eine zweite Glasfassade gehängt wird. Der meist etwa ein Meter breite Zwischenraum erlaubt eine bessere Belüftung und reduziert den Energiebedarf gegenüber normalen „Einfach-Verglasungen“ um ein Vielfaches.
Bei der Standfestigkeit eines Gebäudes spielt Glas jedoch keine Rolle, gestützt wird es stets durch Stahl, Beton, Aluminium und elastische Kunststoffe wie Silikon oder Neopren. Deshalb setzt Glas auch bei der Höhe keine Grenzen. „Egal, wie hoch die Bauwerke in den nächsten Jahren oder Jahrhunderten noch werden mögen, das Glas geht mit“, so die Prognose von Klaus Lother. Heute errichtete Glasfassaden könnten in 50 bis 60 Jahren noch stehen, schätzt er, vorausgesetzt, die Menschen würden der Bauwerke vorher nicht überdrüssig. Für die Fassade in Taipei garantieren die Bayern allerdings nur zehn Jahre Haltbarkeit, räumt Lother schmunzelnd ein.
Stand: 08.10.2004