Fast ebenso hartnäckig wie die Vorstellung der Migräne als psychosomatische Krankheit hält sich auch der Mythos einer Migräne-Persönlichkeit. „Voll stiller und unterdrückter Wut“ seien diese Personen, konstatierte bereits 1734 der Arzt D. Junkerius. Harold Wolff, Arzt am Cornell University Medical College und einer der Väter der Migräneforschung, beschreibt die typischen Migränepatienten 1937 in einer Studie als „ehrgeizige, perfektionistische, rigide, zwanghafte und sehr leistungsorientierte Menschen, die aufgrund von Ängstlichkeit und Unsicherheit ihre Gefühle nicht adäquat äußern und auf Belastungssituationen nicht angemessen reagieren können.“
„Neurotizismus-Score normal“
Inzwischen gehen die meisten Mediziner davon aus, dass es diese Art der Migräne-Persönlichkeit so nicht gibt. Bereits im Jahr 1980 stellte eine deutschlandweite Studie an 1.700 Patienten fest, dass der so genannte Neurotizismus-Score bei über 60 Prozent der Migräniker im Normbereich lag. Dieser Zahlenwert gibt an, inwieweit eine Versuchsperson eine emotionale Instabilität aufweist, die bei zu großer Belastung zu neurotischen und damit beispielsweise auch psychosomatischen Symptomen führen kann. Mit ihrem 60-Prozent-Wert liegen die Migräniker nach Einschätzung der Wissenschaftler absolut im Durchschnitt von Menschen mit chronischen Erkrankungen. In der gleichen Studie zeigte sich zudem eine überraschend niedrige Korrelation von Migräne mit Depressionen.
Pünktlich, ordentlich, pflichtbewusst?
Aber es gibt auch andere Stimmen. So berichten die Schmerztherapeuten Martin Krumbeck und Rolf Leeser auf ihrer Internetseite: „Obwohl Studien die Theorie von der ‚Migränepersönlichkeit‘ widerlegt haben wollen, fällt in der täglichen Praxis auf, dass bei Patienten mit einer Migräne die pflichtbewusste Persönlichkeit deutlich überwiegt. Der typische Migränepatient kommt z.B. sehr pünktlich zu einer Verabredung bzw. ist meist schon vor der verabredeten Zeit da. Im Beruf achtet der Migräniker sehr darauf, dass alles geordnet abläuft, er mag es nicht, wenn gegen Feierabend noch unerledigte Vorgänge herumliegen. Auffallend ist auch, dass Patienten mit einer Migräne sehr wenige, krankheitsbedingte Fehltage aufweisen. Der Haushalt einer Migränepatientin ist in aller Regel sehr geordnet und vor allem sauber.“
Allerdings ist bei diesen eher anekdotischen Beobachtungen nicht klar, ob sich diese „ordentlich-pünktliche“-Art nicht vielleicht auch als Reaktion auf die Migräne herausgebildet hat. Denn für viele Patienten kann beispielsweise zu wenig Schlaf oder unregelmäßiges Essen durchaus schon als Auslöser fungieren. Und auch emotionale Belastungen oder Überforderungen gelten zwar nicht als Migräne-Verursacher, können aber durchaus die Häufigkeit von Attacken fördern. Wer daher darauf achtet, dass Unerledigtes nicht zur Belastung wird, agiert möglicherweise nur im Sinne einer Vorbeugung – mit einer grundlegenden Migräne-Persönlichkeit muss das nichts zu tun haben.
Nadja Podbregar
Stand: 04.03.2011