Eine systematische Untersuchung des minoischen Seewesens muss sich neben dem Schiffbau auch mit den Fragen nach der Entwicklung von Hafeneinrichtungen und Seewegen auseinandersetzen. Hafenanlagen unterliegen besonderen geologischen Bedingungen.
Im Zeitraum der letzten 4.000 Jahre haben Verlandungsprozesse, tektonische Bewegungen und Veränderungen der Meeresspiegelhöhe dazu geführt, dass die Ortung von minoischen Hafenanlagen in vielen Fällen sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, geworden ist. Ein zusätzliches Problem stellen Straßenbaumaßnahmen und touristische Erschließungen in jüngster Zeit dar, die nachträgliche Beeinflussungen von archäologischen Beständen verursachten.
Hafenanlagen kartographisch erfasst
Im Rahmen des Projektes „Inseln der Winde“ wurden die wichtigsten minoischen Hafenanlagen kartographisch erfasst und mit Eigenschaftsprofilen versehen. Hieraus entstand ein Anforderungskatalog, wonach minoische Hafenanlagen definiert werden können.
Wegen der schlechten Überlieferungslage sind Darstellungen von Hafenstädten von großer Bedeutung. Auf dem Westhaus-Fries aus Thera ist uns das Bild des Ankunftshafens mit einer Reihe aufschlussreicher Details erhalten: Eine von einer Mauer umgebene Stadt in direkter Strandlage, ein großes Stadttor zum Wasser hin, eine als Kaianlage zu deutende Wasserlinie, Gebäude auf der Spitze eines Hügels, Läufer – die „Telefondrähte“ der Antike – zwischen Stadt und Aussichtsposten, ein Lagerhaus außerhalb der Stadtmauern und zwei Buchten mit Schiffen mit dem Heck landwärts am Strand.
Lagerhäuser zierten minoische Hafenstädte
Die Existenz von Lagerhäusern in einer minoischen Hafenstadt erscheint aufgrund einer Kette von logischen Hypothesen unverzichtbar. Am Anfang dieser Kette steht das richtige Stauen und Trimmen eines Schiffes. Die aufzuwendende Sorgfalt hierfür war für die bronzezeitlichen Seeleute überlebenswichtig. Die Ladung musste fest verzurrt sein, damit sie nicht bei einer Welle verrutscht und das Schiff zum Kentern bringt. Dieser Aspekt lässt rückschließen auf den Zeitbedarf und das Bereitstellen der Transportgüter direkt am Ankerplatz.
Da wir keine Nachweise über Kaianlagen aus dieser Zeit haben, ist eine Be- und Entladung im Flachwasser von seichten Buchten in Betracht zu ziehen. Die Bauart der Schiffe erlaubte dank der starken Kiele das Hochziehen am Strand im unbeladenen Zustand und das Zuwasserlassen. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass die bronzezeitlichen Seeleute ein beladenes Schiff über Tage im Flachwasser liegen ließen. Die Gefahr, dass die Ladung wegen drehenden Windes und des daraus resultierenden hohen Wellenganges verloren ging, war zu groß.
Kurzfristige Zwischenlagerung der Güter
Darüber hinaus konnte die Fracht nur schwer bewacht werden – ein gerissenes Ankertau würde den Verlust von Schiff und Fracht bedeuten. Deshalb muss man den Prozess der Be- und Entladung in ein kurzes Zeitfenster einordnen, bevor in See gestochen beziehungsweise bevor das Schiff an Land gezogen wird. Wenn man nun davon ausgeht, dass in vielen Fällen der eigentliche Herkunfts- oder Zielort der Ladung nicht die Häfen, sondern die großen Zentren im kretischen Hinterland waren, wäre die Be- oder Entladung einer spätminoischen Flotte ohne eine kurzfristige Zwischenlagerung der Güter am Hafen unmöglich gewesen.
Die Fracht einer Flotte aus sieben Schiffen durchschnittlicher Größe muss etwa 40 Tonnen betragen haben. Ihr Transport aus einem Zentrum des Hinterlands würde eine 300-köpfige Eselskarawane von etwa einem Kilometer Länge erfordern. Nun ist es sehr schwer, sich 300 Esel an einem Sandstrand mit sieben Schiffen im Flachwasser vorzustellen. Durch diese logistischen Tatsachen lässt sich der Bau von Lagerräumen direkt am Strand erklären. Solche Gebäude sind uns tatsächlich aus den minoischen Häfen von Kommos, Malia, und Nirou-Chani bekannt.
Thomas Guttandin, Diamantis Panagiotopoulos und Gerhard Plath / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 12.10.2011