Ist Deutschland ein Entwicklungsland in Sachen Vitaminen? Leiden wir unter aktuem Vitaminmangel? Fast scheint es so: Dr. Rath und andere Handlungsreisende in Sachen Vitamingesundheit füllen ganze Säle, ACE-Drinks fehlen in keinem Supermarktregal und Sprudeltabletten mit den begehrten „Gesundmachern“ gehören fast schon zum Alltag. Selbst auf Tütensuppen, Frühstücksflocken und Tiefkühlkost prangt immer häufiger ein wahres Gesundheits-Alphabet.
Besonders begehrt sind dabei die Vitamine C, E und A in Form von Beta-Carotin. Sie gelten als „Radikalfänger“ und sollen nicht nur Alterungsprozesse in Haut und anderen Geweben verhindern, sondern auch vor Krebs schützen. Tatsächlich haben Labor- und Tierversuche vielfach gezeigt, dass beispielsweise Beta-Carotin Oxidationsprozesse der DNA und damit auch potenziell krebsauslösende Mutationen reduzieren kann. Epidemiologische Untersuchungen scheinen dies zu bestätigen. So ergaben 24 von 25 Lungenkrebsstudien eine signifikante Reduktion des Krebsrisikos bei Menschen mit hohen Beta-Carotin-Konzentrationen im Blutplasma. Ähnliche Ergebnisse gab es für Vitamin E.
Angespornt von solchen Ergebnissen handeln viele nach der Devise: „Viel hilft viel“ und greifen im Supermarkt instinktiv zu den angereicherten Produkten. Entsprechend addiert sich die Menge der aufgenommenen Vitamine.
Doch dieser „Vitamin-Overkill“ ist nicht ohne Risiko: Gerade die vermeintlich heilsame Wirkung der Antioxidanzien kann sich schnell ins Gegenteil verkehren, wie neuere Erkenntnisse zeigen. Die Substanzen verursachen dann sogar eine verstärkte Oxidation und können das Krebsrisiko erhöhen. In den USA mussten sogar mehrere Studien vorzeitig abgebrochen werden, weil vermehrt Todesfälle und deutlich erhöhte Krebsraten aufgetreten waren.
Es gibt beispielsweise Hinweise darauf, dass schon die Aufnahme von 20 Milligramm und mehr an Vitamin A pro Tag bei starken Rauchern und Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen Gesundheitsschäden hervorrufen kann. Keine sehr beruhigende Nachricht angesichts der Tatsache, dass ein halber Liter eines handelsüblichen ACE-Getränks bereits bis zu zwölf Milligramm Beta-Carotin enthalten kann. In Deutschland sind zwar einige Vitaminzusätze in Lebensmitteln auf bestimmte Höchstmengen beschränkt und zulassungspflichtig, für viele andere, darunter auch Beta-Carotin, gilt dies jedoch nicht. Dem Boom des „Vitamindopings“ tut dies daher keinen Abbruch.
Ernährungsexperten sehen das mit gemischten Gefühlen. „Pauschalwarnungen spiegeln keinesfalls die Vitaminversorgung unserer Bevölkerung wider und führen oft zu einer erheblichen Verunsicherung der Verbraucher“, erklärte dazu der Ernährungswissenschaftler Prof. Helmut Heseker anlässlich einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Deutschland sei kein Vitaminmangelland, so der einhellige Tenor der Experten. Einzig für die Vitamine E, D und Folsäure bestünden vereinzelt Defizite, insbesondere bei Frauen und alten Menschen. Doch hier sei eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst, Nüssen und Gemüsen völlig ausreichend…
Stand: 23.04.2004