Es ist einfach zu sehen, dass frühe Unterschiede in der Lesemenge bei Kindern erhebliche Konsequenzen haben, und zwar sowohl für die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler als auch für das Handeln von Eltern und Lehrern.
Engels- und Teufelskreis
Zunächst einmal kann sich durch das Zusammenspiel von Leseverhalten und Lesefähigkeit ein positiver „Engelskreis“ ergeben: Menschen, die mehr und anspruchsvollere Bücher lesen, üben diese Fähigkeiten mehr und werden dadurch immer besser. Entsprechend hat das Forscherteam auch herausgefunden, dass das Lektüreverhalten stark mit anderen sprachlichen Leistungen der Kinder zusammenhängt: Kinder, die viele Kinderbücher kennen, haben einen größeren Wortschatz und lesen flüssiger.
Leider ist jedoch der umgekehrte Fall wesentlich häufiger: Kinder, denen das Lesen schwerfällt, vermeiden es, dadurch fällt es ihnen immer schwerer und sie vermeiden es immer weiter. Obwohl die Leseforschung diese komplexen Wechselbeziehungen zwischen dem, was Kinder lesen und dem was sie können, schon lange beobachtet, ist noch nicht klar, was man am besten dagegen tun kann.
Lehrer, Lesepaten oder Eltern?
Sicherlich liegt die Lösung in einem Zusammenspiel unterschiedlicher Maßnahmen gleichzeitig: Die Lehrkräfte in der Schule sind wichtig, haben aber häufig nicht die Zeit, sich in jedem Einzelfall um das Lektüreverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Lesepaten-Systeme sind sicherlich eine gute Sache, aber es ist unklar, wie nachhaltig die Wirkung solcher eher punktuellen Maßnahmen ist.
Programme zur Förderung der Lesemotivation sind ebenfalls gut und sinnvoll, aber aus kognitiver Perspektive meist zu unspezifisch. Gerade die schwächeren Schülerinnen und Schüler, denen das Dekodieren einfachster Wörter noch sehr schwerfällt, bedürfen der gezielten Förderung und Übung, um sie überhaupt erst in die Lage zu versetzen, eigenständig weiterzulesen.
Denn das ist das Entscheidende: Statt einmal die Woche zum Leseunterricht zu gehen oder, von den Eltern vorgeschrieben, die obligatorischen fünf Minuten zu Hause lesen zu müssen, ist es wichtig, das „kognitive Immunsystem“ der Kinder soweit zu stärken, dass sie in der Lage (und willens) sind, sich eigenständig mit Büchern und Texten auseinanderzusetzen – egal ob in altmodischer Papierform, als E-Book oder im Internet.
Dr. Sascha Schroeder / Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Stand: 06.03.2015