Heute durchwandern viele Menschen aus Abenteuerlust unwirtliche Gegenden. Zu Ötzis Zeiten allerdings konnte man sich diesen Luxus nicht leisten. Wer sich damals auf den Höhen der Alpen aufhielt, der tat dies meist aus drei Gründen: Er war „beruflich“ unterwegs, suchte nach Nahrung oder aber er war auf der Flucht. Was aber traf auf Ötzi zu?
Ein Wanderhirte?
Schon kurz nach dem Fund der Eismumie vermuteten Archäologen, Ötzi sei ein Wanderhirte gewesen. Ähnlich wie bei der heutigen Almwirtschaft wäre er dann im Frühsommer, kurz vor seinem Tod, mit Herden von Schafen, Ziegen oder Rindern in höhere Lagen gezogen. Dafür spricht, dass Teile von Ötzis Kleidung aus dem Fell domestizierter Ziegen, Schafe und Rinder hergestellt wurden – dem Material, das ein Hirte am ehesten zur Hand gehabt hätte.
Dagegen spricht allerdings die Zeit, in der Ötzi lebte: Damals war zwar die Viehhaltung in den Ebene und im Voralpenland durchaus schon etabliert. Aber eine saisonale Weidewirtschaft gab es zu dieser Zeit in dieser Alpenregion noch nicht. Den Erkenntnissen der Archäologen nach begann diese erst in der Bronzezeit – und damit gut 1.500 Jahre später.
Ein Schamane?
Einer weiteren Hypothese nach könnte Ötzi ein Schamane oder Heilkundiger gewesen sein, der sich aus rituellen Gründen im Hochgebirge aufhielt. Dafür könnte zum einen die medizinische Ausrüstung sprechen, die der Gletschermann bei sich trug: Archäologen haben zwei Fellstreifen gefunden, auf die jeweils ein getrockneter Fruchtkörper des Birkenporlings aufgefädelt war. Dieser auf Birkenholz wachsende Pilz enthält Inhaltsstoffe, die entzündungshemmend und antibiotisch wirken.
Ebenfalls auf einen vielleicht schamanischen Hintergrund verweisen die Tätowierungen der Eismumie. Ötzi trägt 61 in die Haut eingeritzte und mit Holzkohle eingefärbte Linien und Kreuze am Körper. Viele davon liegen in der Nähe von Gelenken oder auf Akupunkturpunkten. Forscher vermuten daher, dass die Tätowierung an diesen Stellen gegen Schmerzen helfen sollte. Es ist aber nicht auszuschließen, dass zumindest einige der Linien und Kreuze auch in einem rituellen Kontext stehen.
Das Rätsel des Beils
Für einen hohen Rang und gegen den einfachen „Wanderhirten“ spricht auch das Kupferbeil des Gletschermannes. Denn das Kupfer war damals noch ein begehrtes und wertvolles Material. Das Erz dafür wurde in den Zentralalpen abgebaut, die Technik der Metallverarbeitung und des Schmelzens aber stammte aus Vorderasien. Grabbeigaben aus der Kupferzeit belegen, dass kupferne Klingen und Beile den höherrangigen Mitgliedern der Gesellschaft vorbehalten waren.
Dass Ötzi ein solches Statussymbol bei sich trug, könnte daher darauf hindeuten, dass er in seiner Gemeinschaft eine hohe Stellung einnahm. Er könnte ein Clanführer gewesen sein, ein Herdenbesitzer oder aber ein Schamane. Wäre letzteres der Fall, würde man allerdings zusätzlich zu den bei ihm gefundenen Gerätschaften auch besonderen Schmuck, eine aufwändigere Kleidung oder aber rituelle Objekte erwarten. Diese aber besaß Ötzi bei seinem Tod nicht.
Wahrscheinlich nicht auf der Flucht
Theoretisch wären noch drei weitere Gründe denkbar, warum Ötzi so hoch oben in den Alpen unterwegs war: Er könnte als Erzsucher auf der Suche nach Kupfer gewesen sein, er war Händler und deshalb außerhalb seines Tals unterwegs oder aber der Gletschermann war auf der Flucht. Gegen die ersten beiden Hypothesen spricht allerdings, dass bei der Eismumie weder Erzsucher-Werkzeug noch Handelsware gefunden wurde.
Gegen eine übereilte Flucht aus dem Tal spricht Ötzis letzte Mahlzeit: Bereits 2011 belegte die Analyse von Proben aus dem Magen der Eismumie, dass der Mann noch rund eine Stunde vor seinem Tod ausgiebig gespeist hat. Auch Reste von zwei früheren Mahlzeiten waren noch erhalten. Bei diesen „Picknicks“ aß der Gletschermann Fleisch vom Hirsch und Steinbock, dazu eine Art Fladen aus Getreide sowie Äpfel und Blattgemüse. Diese Mahlzeiten sprechen nach Ansicht der Archäologen eher gegen eine Flucht.
Wie genau Ötzi lebte und welche Stellung er in seiner Heimat bekleidete, bleibt bisher rätselhaft. Klar scheint nur, dass er eher zu den Anführern seines Clans gehört haben muss – in welcher Funktion auch immer.
Nadja Podbregar
Stand: 16.09.2016