Wissenschaftler haben beim Meeres-Borstenwurm neben einfachen Augenpaaren auch Fotorezeptoren gefunden, die denen von Wirbeltieren gleichen. Die Forscher vermuten deshalb, dass sich die verschiedenen „Übersetzer“ von Licht in elektrische Signale in den Ur-Bilateria, der Stammgruppe oder den gemeinsamen Vorfahren aller bilateral-symmetrischen Tiere, fast zeitgleich entwickelt haben.
Wie sind die Augen der Wirbeltiere entstanden?
Die Wahrnehmung des sichtbaren Lichtes ist für die meisten Menschen eine so alltägliche Erfahrung, dass man sich über die Entstehung der dafür erforderlichen Sinnesorgane keine großen Gedanken mehr macht. Das Auge ist nach dem Gehirn vermutlich das komplexeste Organ der mehrzelligen Organismen. Obwohl man die embryonale Bildung des Wirbeltierauges schon gut bekannt ist, herrscht in der Stammesgeschichte der Tiere noch Ungewissheit darüber, wie sich diese Augen der Wirbeltiere entwickelt haben und ob alle zuvor entstandenen Augentypen, wie die Grubenaugen bei Schnecken, die Komplexaugen bei Insekten oder die Linsenaugen beim Tintenfisch, mit dem Wirbeltierauge homolog sind. Dabei geht es um die Frage, ob alle Augen auf eine gemeinsame Vorläuferstruktur zurückgeführt werden können.
„Übersetzung“ von Licht in elektrische Signale
Fotopigmente sind schon bei Einzellern entdeckt und beschrieben worden. Sie bewirken die „Übersetzung“ von Licht in elektrische Signale. In der Evolution der mehrzelligen Organismen haben sich die Augen aus fotorezeptiven Sinneszellen und abschirmenden Pigmentzellen entwickelt.
Strukturell unterscheidet man Augen vom rhabdomeren Typ zum Beispiel bei Insekten, und vom ciliären Typ bei den Wirbeltieren, deren Rezeptoren als „Stäbchen“ und „Zapfen“ bezeichnet werden. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science beschreibt ein Wissenschaftlerteam unter Beteiligung des Gießener Zoologen Prof. Adriaan Dorresteijn, dass in der Entwicklung des Meeres-Borstenwurmes Platynereis dumerilii neben den drei Augenpaaren vom rhabdomeren Typ sich im Gehirn zusätzlich paarige photorezeptive Felder von ciliären Rezeptoren, ähnlich denen der Wirbeltiere, befinden.
Auch die Opsine, Proteinkomponenten der Fotopigmente, dieser ciliären Rezeptoren zeigen in ihrer Struktur eine sehr starke Verwandtschaft zu den gleichen Molekülen der Wirbeltierrezeptoren. Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop belegen, dass sich das Cilium der Rezeptoren beim Borstenwurm bereits an der Basis in Cytoplasmafäden auffächert, um so die Oberfläche zu vergrößern. Jeder dieser Fäden enthält im Zentrum ein Duplett aus Mikrotubuli – zwei eng zusammenliegende winzige Röhrchen.
Die Forscher vermuten deshalb, dass sich die rhabdomeren und die ciliären Fotorezeptoren in den Ur-Bilateria, der Stammgruppe oder den gemeinsamen Vorfahren aller bilateral-symmetrischen Tiere, fast zeitgleich entwickelt haben. In der späteren Evolution haben die Arthropoden oder Gliederfüßler den rhabdomeren Typ, die Wirbeltiere den ciliären Typ dieser Fotorezeptoren geerbt. Deswegen unterscheiden sich die Augen eines Insekts und die eines Menschen auch schon auf den ersten Blick.
(idw – Justus-Liebig-Universität Gießen, 02.11.2004 – DLO)