Aussterbendes Wissen: In Europa sind nicht nur viele Insekten akut bedroht – auch die Fachleute zur Bestimmung dieser Tiere werden immer weniger, wie eine neue Rote Liste der Insekten-Taxonomen aufzeigt. Schon jetzt gibt es für gut 40 Prozent aller Insekten-Ordnungen nicht mehr genügend Taxonomen. Selbst für artenreiche Insektengruppen wie Käfer, Schmetterlinge oder Hautflügler fehlen in Europa zunehmend Fachleute, warnt die Internationale Naturschutzunion.
Taxonomen sind die „Buchhalter“ der Natur: In mühevoller Kleinarbeit vergleichen und analysieren sie die morphologischen und genetischen Merkmale eines Lebewesens, um seine Artzugehörigkeit zu bestimmen – und damit seinen Platz im großen Stammbaum des Lebens zu ermitteln. Erst ihr Wissen und ihre Erfahrung ermöglicht es, neue Arten zu identifizieren, Verwandtschaften aufzuklären und die Artenvielfalt abzuschätzen. Ihre Arbeit ist auch deshalb wichtig, weil bisher erst ein Bruchteil der wahren Biodiversität auf unserem Planeten bekannt ist.
Doch so wichtig die Taxonomie auch ist: Es ist eine aussterbende Kunst. Weltweit wählen immer weniger Biologen diese Fachrichtung und als Folge schwindet auch das Wissen, das für die Bestimmung vieler Arten nötig ist.
Rote Liste für die Insekten-Expertise
Jetzt schlägt auch die Internationale Naturschutzunion (IUCN) Alarm: Sie hat erstmals eine Rote Liste für Europas Insekten-Taxonomen aufgestellt und besorgniserregende Lücken aufgedeckt. Für ihre Erhebung haben Forschende um Axel Hochkirch von der IUCN mehr als 1.500 Experten für die Taxonomie der Insekten aus allen europäischen Ländern nach ihrer Fachrichtung, Expertise und weiteren Merkmale befragt.
Diese Ergebnisse setzten die Forschenden in Bezug zu den 29 Ordnungen der Insekten, um so die Abdeckung durch entsprechende Taxonomen einzuschätzen. Daraus resultierte die Rote Liste der Insekten-Taxonomen, die angibt, bei welchen Insektenordnungen es schon jetzt zu wenig Fachleute in Europa und den einzelnen Ländern gibt. Die Klassifizierung reicht dabei von adäquater Abdeckung bis zu erodierter Kapazität – letzteres entspricht der Rote-Liste-Kategorie „ausgestorben“.
Mangel an Experten selbst bei großen Insektengruppen
Das Ergebnis: Selbst im reichen und wissenschaftlich gut ausgestatteten Europa fehlt es zunehmend an Fachleuten für die Insekten-Taxonomie. 16 der 29 Insektenordnungen sind der Roten Liste zufolge inadäquat oder schwach durch Taxonomen abgedeckt. Damit gibt es für 41 Prozent der Insektenordnungen schon jetzt nicht mehr genügend Wissenschaftler, die die einzelnen Arten bestimmen und einordnen können.
Unter den inadäquat oder schwach abgedeckten Insektengruppen sind selbst so prominente und artenreiche Ordnungen wie die Käfer, Schmetterlinge, Fliegen, Läuse, Schaben oder Wanzen. Bei der kleinen Ordnung der Tarsenspinner (Embioptera) gibt es in Europa gar keine Expertise mehr – die Taxonomie für diese Insektengruppe ist weitgehend ausgestorben.
Wie sieht es in Deutschland aus?
Die Rote Liste zeigt aber auch, dass es innerhalb Europas große länderspezifische Unterschiede gibt. So ist die Insekten-Taxonomie in Deutschland, Tschechien und Russland noch am besten vertreten. Bei uns sind mit Ausnahme der Embioptera alle Insektenordnungen durch Fachleute abgedeckt, acht Ordnungen allerdings nicht in ausreichendem Maße. Am unteren Ende der Roten Liste rangieren dagegen Länder, in denen es nur für wenige Insektengruppen überhaupt Taxonomen gibt, darunter Island, Albanien, Aserbaidschan, Litauen und Weißrussland, aber auch Irland, Luxemburg und Malta.
Als Grund zur Sorge sehen Hochkirch und sein Team auch, dass es gerade in den europäischen Ländern mit der höchsten Insektenvielfalt besonders oft an Expertise fehlt. Andererseits beherbergen Europas Museen und Forschungseinrichtungen einige der größten wissenschaftlichen Insektensammlungen weltweit. „Europa steht daher in einer besonderen Verantwortung, das taxonomische Wissen zu erhalten und für die entsprechende Kapazität an Experten zu sorgen“, konstatieren die Forschenden.
Mehr Nachwuchs tut not
Nach Ansicht von Hochkirch und seine Kollegen muss dringend etwas getan werden, um der Taxonomie mehr Zulauf und damit „Nachwuchs“ zu verschaffen. Denn von den zurzeit tätigen Insekten-Experten sind viele schon älter und werden in absehbarer Zeit in Rente gehen. „Es ist entscheidend, die Bedeutung und den Wert der Taxonomie und der Arbeit der Taxonomen stärker ins Bewusstsein zu rufen“, sagt Lyubomir Penev von Pensoft. „Wir müssen die jungen Generationen dazu motivieren, sich dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft anzuschließen.“
Hinzu kommt: Europa gehört noch zu den wissenschaftlich am besten ausgestatteten Regionen weltweit. Wenn es selbst hier an Fachleuten fehlt, sieht die Lage vor allem in den ärmeren Regionen des Südens höchstwahrscheinlich noch schlechter aus. (European Red List of insect taxonomists, 2022; doi:10.2779/364246)
Quelle: EU-Generaldirektorat für Umwelt, Pensoft Publishers