Forscher haben eine bisher unbekannte genetische Ursache der Multiplen Sklerose (MS) entdeckt: Patienten mit dieser fortschreitenden Krankheit tragen eine Genvariante, die eine bestimmte Andockstelle in ihrem Nervensystem löslich und damit mobil macht. Dadurch kann diese im Gehirn ein wichtiges Signalmolekül des Immunsystems, den sogenannten Tumor-Nekrosefaktor Alpha (TNF Alpha), blockieren und so die MS-typischen Entzündungen auslösen, wie die Wissenschaftler im Fachmagazin „Nature“ berichten. Diese Genvariante wirke damit ähnlich wie bestimmte Medikamente, von denen man wisse, dass sie die Multiple Sklerose verstärken.
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Der neuentdeckte Zusammenhang sei spezifisch nur für die MS und damit ein Ansatzpunkt für die Entwicklung neuer Therapien, erklärt Ralf Gold, Direktor der Neurologischen Klinik an der Ruhr-Universität Bochum, einer der Koautoren der Studie. Außerdem könne das neue Wissen wichtige Behandlungsfehler verhindern helfen. „Im klinischen Alltag stellen wir fest, dass Medikamente, die TNF-Alpha blockieren, nur bei der Multiplen Sklerose, aber nicht bei anderen Autoimmunerkrankungen zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes führen“, berichtet Gold. Bei anderen Autoimmun-Erkrankungen, wie starkem Rheuma, sei diese Blockade dagegen ein wesentlicher Stützpfeiler der Therapie.
Rund 130.000 Menschen leben nach Angaben der Forscher allein in Deutschland mit einer Multiplen Sklerose (MS), weltweit sind es 2,5 Millionen. Frauen sind zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer. Die Erkrankung beginnt oft im jungen Erwachsenenalter, der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 20. und dem 45. Lebensjahr. Die MS gilt als Autoimmunerkrankung: Die körpereigene Abwehr greift irrtümlich die Hüllen der Nervenfasern an und stört dadurch fortschreitend die Übertragung der Nervensignale. Bisher habe man zwar schon einige andere genetische Risikofaktoren für die MS entdeckt, diese seien aber meist nicht spezifisch für nur diese Krankheit und ihre medizinische Relevanz sei umstritten, sagen die Forscher.
Systematische Suche im Erbgut
Die neue Genvariante entdeckten die Wissenschaftler im Rahmen einer genomweiten Assoziationsstudie (GWAS). Bei dieser wird das Erbgut von Patienten systematisch nach veränderten Genvarianten durchsucht. In einer solchen Analyse bei 379 Europäern war den Forschern eine bestimmte Genvariante aufgefallen, die bei MS-Patienten gehäuft aufzutreten schien. Sie überprüften dies daher zusätzlich bei 1.853 MS-Patienten und 5.174 gesunden Kontrollpersonen. Das Ergebnis: „In der statistischen Auswertung erwies sich diese Genvariante als das stärkste mit MS verbundene Signal“, schreiben Adam Gregory von der University of Oxford in Großbritannien und seine Kollegen, zu denen auch Forscher der Universitäten Bochum und Düsseldorf gehörten, sowie Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Biochemie in Martinsried.
Als nächstes prüften die Forscher, wie sich die Veränderung in diesem Gen auswirkt. Dabei stellten sie fest, dass dadurch eine Andockstelle, der sogenannte TNF-Rezeptor-1, verändert wird. „Das veränderte Gen lässt eine neue, lösliche Form dieses Rezeptors entstehen, die den Tumor-Nekrosefaktor Alpha blockieren kann“, schreiben Gregory und seine Kollegen. Dieser Prozess wiederum fördere die MS-typischen Entzündungen im Gehirn, die die Hüllen der Nerven zerstörten. (doi: 10.1038/nature11307)
(Nature, 10.07.2012 – NPO)