Wer empathisch ist, kann andere auch gut verstehen? Diese Gleichung geht Forschern zufolge nicht immer auf. Sie zeigen mit einem Experiment, dass überbordendes Einfühlen das kognitive Verstehen sogar beeinträchtigen kann. Demnach können die für die beiden Fähigkeiten zuständigen neuronalen Netzwerke einander hemmen. Die Folge: Fühlen wir intensiv und emotional mit, verstehen wir mitunter schlechter, was das Gegenüber weiß, plant oder will.
Die Fähigkeit, sich in die Gefühlswelt von anderen hineinversetzen zu können, ist bei Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Veränderte Hirnaktivitäten machen Studien zufolge rund ein Fünftel der Bevölkerung zu besonders sensiblen und empathischen Personen. Im Umgang mit Mitmenschen kann diese Eigenschaft zum Vorteil werden. „Eine erfolgreiche soziale Interaktion basiert auf unserer Fähigkeit, an den Gefühlen anderer teilzuhaben“, sagen Psychologen um Philipp Kanske vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.
Ebenso wichtig wie Empathie ist es aber, die Gedanken und Absichten anderer nachvollziehen zu können. Doch können Menschen, die sich gut in andere hineinfühlen können, diese auch zwangsläufig gut verstehen? Dieser Frage ist das Team um Kanske nun nachgegangen – und hat Erstaunliches festgestellt.
Gute Empathie gleich gutes Verständnis?
Die Forscher wollten wissen, ob Empathie und die sogenannte kognitive Perspektivübernahme – also das Vermögen zu verstehen, was andere Menschen wissen, planen oder wollen – miteinander einhergehen. Dafür untersuchten sie, wie unterschiedliche Personen auf bestimmte Videosequenzen reagieren – und welche Hirnareale dabei aktiv sind.
Kanske und seine Kollegen zeigten rund 200 Studienteilnehmern eine Reihe von kurzen Filmen, in denen der Erzähler mal mehr, mal weniger emotional war. Anschließend sollten die Probanden angeben, wie sie sich selbst fühlten und wie sehr sie mit der Person in dem Film mitgefühlt hatten. Zudem mussten sie Fragen zu den Filmen beantworten, beispielsweise was die Personen gedacht, gewusst oder gemeint haben könnten.
Hirnaktivität im Blick
Auf diese Weise identifizierten die Psychologen Probanden mit einem hohen Maß an Empathie. Anschließend untersuchten sie, wie die empathischen Menschen im Vergleich zu den weniger einfühlsamen bei dem Test zur kognitiven Perspektivübernahme abgeschnitten hatten. Hatten sie die Personen im Film womöglich auch besser verstanden?
Zudem beobachteten die Wissenschaftler mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie, welche Bereiche des Gehirns der Teilnehmer während des Tests aktiv waren. „Uns interessierte, ob sich die für die beiden Leistungen Empathie und Perspektivübernahme zuständigen neuronalen Netze gegenseitig beeinflussen“, schreiben die Forscher.
Starkes Mitgefühl beeinträchtigt Verstehen
Die Hirnbilder offenbarten: Tatsächlich interagieren diese beiden Netzwerke im Gehirn miteinander – und sie scheinen sich gegenseitig ausbremsen zu können, wie die Wissenschaftler berichten. In sehr emotionalen Situationen, zum Beispiel wenn jemand vom Tod eines Freundes erzählt, kann demnach eine Aktivierung in einem Teil des Empathie-relevanten Netzwerkes, der sogenannten Insula, bei manchen Menschen einen hemmenden Einfluss auf die für die Perspektivübernahme relevanten Gehirnareale haben.
„Das führt wiederum dazu, dass überbordendes Einfühlen Verstehen sogar beeinträchtigen kann“, schreiben Kanske und seine Kollegen. Ihre Studie habe gezeigt: „Menschen, die zu Mitgefühl neigen, sind demzufolge nicht notwendigerweise diejenigen, die andere Menschen kognitiv gut verstehen.“
Die Fähigkeit zur Empathie geht demnach nicht automatisch mit der Fähigkeit zum Verstehen einher. Vielmehr beruhe soziale Kompetenz auf verschiedenen und voneinander unabhängigen Fertigkeiten, so das Fazit der Forscher. So sollten Trainings, die das Ziel haben, soziale Kompetenz zu verbessern, die Bereitschaft sich in andere einzufühlen und die Fähigkeit, andere kognitiv zu verstehen, getrennt voneinander fördern, berichten sie. (Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2016; doi: 10.1093/scan/nsw052)
(Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 02.05.2016 – DAL)