Von wegen simple Zellklumpen: Die ersten mehrzelligen Tiere waren komplexer als bisher gedacht. Denn sie bestanden wahrscheinlich schon aus pluripotenten Zellen, die sich in verschiedene Zelltypen und Gewebe umwandeln konnten – ähnlich wie Stammzellen. Indizien dafür haben Forscher nun bei Vergleichen von Schwämmen und Geißeltierchen gefunden. Ihre Erkenntnisse widerlegen die gängige Theorie zur Evolution der mehrzelligen Tiere, wie sie im Fachmagazin „Nature“ berichten.
Schon vor fast 560 Millionen Jahren bevölkerten mehrzellige Tiere das Urmeer, wie Fossilfunde bizarrer, blattartiger Lebewesen belegen. Genetische Studien sprechen sogar dafür, dass die ersten Urtiere schon deutlich früher, vor der großen Eiszeit des „Schneeball Erde“ entstanden sein könnten. Doch wie sahen diese Organismen aus? Gängiger Lehrmeinung nach handelte es sich um einfache Ansammlungen von gleichen Zellen. Als wahrscheinlichster Zelltyp für diese Urtiere gelten begeißelten Zellen, die den Kragengeißeltierchen (Choanoflagellaten) oder den Choanozyten im Inneren der Schwämme ähneln.
„Weil die Schwamm-Choanozyten den einzelligen Choanoflagellaten so ähneln, hielten Biologen diese jahrzehntelang für die engsten lebenden Verwandten der Mehrzeller-Vorfahren“, erklärt Sandie Degnan von der University of Queensland.
Spurensuche bei Schwämmen und Geißeltierchen
Doch was ist dran an dieser Theorie? Das haben Degnan, Erstautor Shunsuke Sogabe und weitere Kollegen nun mithilfe der Transkriptom-Analyse überprüft – der Analyse der in den Zellen produzierten RNA. Dadurch wollten sie herausfinden, ob sich die Choanoflagellaten und die Choanozyten der Schwämme auch in Genaktivität und Zellstoffwechsel ähnlich sind.
Wäre das der Fall, würde dies ein weiteres Argument für die Entstehung der ersten Mehrzeller aus Geißeltier-ähnlichen Urzellen liefern. Für ihre Studie analysierten die Forscher daher das Genom und das Transkriptom des Schwamms Amphimedon queenslandica, des Choanoflagellaten Salpingoeca rosetta und weiterer Einzeller.
Transkriptom passt nicht zusammen
Das überraschende Ergebnis: Entgegen den Erwartungen gab es zwischen den einzelligen Choanoflagellaten und den Choanozyten der Schwämme kaum Übereinstimmungen. „Ihre Transkriptom-Signaturen passen einfach nicht zusammen“, sagt Degnan. Auch mit den anderen Einzellern stimmten die Signaturen nicht überein. So ähnlich sich die Zellen der Kragengeißeltierchen und der Schwamm-Innenwände auch sehen – in ihrem Zellstoffwechsel und Verhalten sind sie demnach sehr verschieden.
„Das bedeutet, dass diese Zellen nicht die Grundbausteine des tierischen Lebens gewesen sein können, für die wir sie bisher gehalten haben“, konstatieren die Forscher. Die neuen Erkenntnisse widersprächen der lange gehegten Hypothese, nach der mehrzellige Tiere aus einer simplen Ansammlung von Choanoflagellaten-ähnlichen Zellen entstanden, sagen sie.
Wandelbar statt simplem Zellball
Wie aber sahen die ersten Urtiere stattdessen aus? Auch dazu lieferte die Transkriptom-Analyse einige Hinweise. Denn neben den Choanozyten besitzen die Schwämme noch zwei weitere Zelltypen – und einer davon stach hervor. Das Transkriptom der sogenannten Archaeozyten zeigte auffallende Übereinstimmungen mit dem der Kragengeißeltierchen und weiteren Einzellern, wie die Forscher berichten.
Das Interessante daran: Das Transkriptom und Verhalten der Archaeozyten deutet darauf hin, dass sie ähnlich wandelbar sind wie pluripotente Stammzellen – sie können sich zu ganz unterschiedlichen Zelltypen weiterentwickeln. „Die ersten mehrzelligen Tiere bestanden wahrscheinlich aus einer Ansammlung solcher sehr wandelbaren Zellen“, erklärt Seniorautor Bernard Degnan von der University of Queensland
Gängige Hypothese entkräftet?
Nach Ansicht der Wissenschaftler ändert dies unsere gängige Vorstellung vom ersten Urtier erheblich. „Wir kehren damit eine Kerntheorie der Evolutionsbiologie auf den Kopf“, sagt Degnan. Schon die Zellen des ersten mehrzelligen Tieres besaßen demnach möglicherweise die Fähigkeit, verschiedene Zelltypen und Gewebe zu bilden.
„Die Urahnin aller Zellen des Tierreichs war einer Stammzelle wahrscheinlich sehr ähnlich“, konstatieren die Forscher. „Diese Flexibilität der Zellentwicklung könnte für die tierische Evolution schon von Beginn an entscheidend gewesen sein.“ (Nature, 2019; doi: 10.1038/s41586-019-1290-4)
Quelle: University of Queensland