Express-Evolution: Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist der Schnabel britischer Kohlmeisen deutlich länger geworden. Damit haben sich die Singvögel in rasantem Tempo an den Nationalsport der Engländer angepasst: das Vogelfüttern. Denn mit längerem Schnabel können die Meisen Körner in Futterspendern besser erreichen, wie Forscher berichten. Bei Artgenossen aus anderen Ländern hat sich der Schnabel dagegen nicht verändert – nirgendwo sonst werden die Vögel so viel gefüttert wie in Großbritannien.
Die Vielfalt der Darwin-Finken inspirierte den namensgebenden Naturforscher einst zu seiner Theorie über die Mechanismen der Evolution: Mit unterschiedlichen Schnabelformen haben sich die ansonsten ähnlichen Vögel auf den Galapagos-Inseln an verschiedene Nahrungsquellen angepasst. An ihnen lässt sich das Prinzip der natürlichen Selektion wie in einem Lehrbuch studieren.
Oft gelten solche evolutionären Anpassungserscheinungen im Tierreich als langwieriger Prozess, der Jahrtausende oder Jahrmillionen dauern kann. Doch mitunter funktioniert Evolution auch im Schnelldurchgang. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefern nun Wissenschaftler um Mirte Bosse vom Niederländischen Institut für Ökologie in Wageningen: Kohlmeisen.
Unterschiede im Genom
Für eine Langzeitstudie hatten die Forscher die DNA von mehr als 2.000 britischen und niederländischen Vögeln dieser Meisenart verglichen. Dabei stellten sie einen frappierenden Unterschied zwischen den beiden Populationen fest. Bei vielen britischen Kohlmeisen entdeckten sie bestimmte Varianten im Erbgut, die bei Meisen aus den Niederlanden kaum zu finden waren.
Bei diesen Gensequenzen handelte es sich um Bereiche, die beim Menschen bekanntermaßen die Gesichtsform beeinflussen. Außerdem stimmten viele der veränderten Gene mit jenen überein, die für die Vielfalt der Schnabelform bei den Darwin-Finken verantwortlich sind. Damit war klar: An dem Schnabel der britischen Meisen muss irgendetwas anders sein.
Schnelle Anpassung
Tatsächlich zeigte sich, dass die in Großbritannien heimischen Vögel längere Schnäbel hatten als ihre Artgenossen. Doch war das schon immer so? Um das zu überprüfen, werteten die Wissenschaftler historische Forschungsdaten aus. Das Ergebnis: „Zwischen den 1970er Jahren und heute ist der Schnabel der Meisen länger geworden“, sagt Mitautor John Slate von der University of Sheffield. „Das ist eine wirklich kurze Zeitspanne für eine derartige Veränderung.“
Was aber war der Treiber für diese Express-Evolution? Die Forscher vermuteten, dass der längere Schnabel wie bei den Darwin-Finken womöglich eine Anpassung an sich verändernde Nahrungsquellen ist. Könnte die Vorliebe der Briten, den Vögeln Futterspender aufzuhängen, etwas damit zu tun haben?
Futterspender als Ursache?
„Wir in Großbritannien geben doppelt so viel für Vogelsamen und Futterspender aus wie die Menschen im Rest von Europa“, erklärt Mitautor Lewis Spurgin von der University of East Anglia in Norwich. „Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein Magazin das Vogelfüttern einmal als britischen Nationalsport bezeichnet.“
Tatsächlich stellten die Forscher bei Beobachtungen in England fest: Kohlmeisen, die die auffälligen Gen-Varianten in ihrem Erbgut trugen, besuchten deutlich häufiger Futterstellen als Vögel, die diese Merkmale nicht hatten. „Wir können zwar nicht mit Sicherheit sagen, dass das Vogelfüttern für die Entwicklung der längeren Schnäbel verantwortlich ist. Aber der Verdacht liegt doch sehr nahe“, sagt Spurgin.
Bessere Fitness
Falls die Vögel mit den längeren Schnäbeln in England wirklich Zugang zu mehr Nahrung haben, weil sie besser an die vom Menschen dargebotenen Körner kommen, müsste sich das auch auf die Fitness der Tiere auswirken. Um das zu überprüfen, schaute sich das Team Vögel mit einer besonders auffälligen Variante im Gen COL4A5 genauer an. Denn diese Mutation schien den meisten Einfluss auf die Schnabellänge zu haben.
Dabei zeigte sich: Kohlmeisen mit dieser Genvariante pflanzten sich in England deutlich erfolgreicher fort als ihre Artgenossen. In den Niederlanden beeinflusste dieses Merkmal den Fortpflanzungserfolg der Vögel dagegen nicht. Das ist den Forschern zufolge ein deutlicher Hinweis darauf, dass hier die natürliche Selektion am Werk ist.
Evolution im Garten
Bosses Team ist nun dabei, auch ins Genom von Kohlmeisen in anderen europäischen Ländern zu blicken. Schon jetzt scheint sich zu bestätigen, dass der lange Schnabel ein einzigartiges Merkmal der britischen Vögel ist. Um faszinierende Ergebnisse der Evolution zu sehen, bedarf es also längst nicht mehr einer weiten Reise aufs Galapagos-Archipel. Mancherorts reicht ein Blick in den eigenen Garten. (Science, 2017; doi: 10.1126/science.aal3298)
(Science/ University of East Anglia, 20.10.2017 – DAL)