Den molekularen Schalter, der den Kalziumspiegel in Nervenzellen dauerhaft anhebt und eine wesentliche Rolle bei der Gedächtnisbildung und der Entstehung von Suchterkrankungen spielt, hat jetzt ein internationales Wissenschaftlerteam identifiziert.
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Die Forscher stellen die Ergebnisse ihrer neuen Studie, die zur Entwicklung neuer Strategien und Behandlungsmethoden bei Gedächtnisverlust oder Suchtverhalten beitragen, jetzt erstmals in der Fachzeitschrift „EMBO Journal“ vor.
Neuronale Plastizität
Lernen und Gedächtnisbildung basiert auf der Entstehung neuer Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn. Auch Verhaltensweisen wie Nikotinsucht manifestieren sich in langfristigen Veränderungen neuronaler Verschaltungen und können – zumindest in dieser Hinsicht – als eine Form des Lernens betrachtet werden.
Neuronale Signale werden zwischen Nervenzellen in Form von chemischen Verbindungen, genannt Neurotransmitter, übertragen. Diese Signalübertragung ist ein erster Schritt und die Voraussetzung für jeden Lernprozess im Gehirn. Sie induziert eine Reihe von Ereignissen in der nachgeschalteten Zelle, die schließlich zu „neuronaler Plastizität“, der Veränderungen der neuronalen Verbindungen führen und somit Gelerntes im Gehirn festigen. Auch Nikotin oder Kokain können in gleicher Weise die Modifikation neuronaler Verbindungen im Gehirn auslösen.
Kalzium ist der Schlüssel
Beim ersten Schritt in der Bildung neuer Verbindungen im Gehirn spielt Kalzium eine wesentliche Rolle. Wenn eine Nervenzelle ein Neurotransmittersignal empfängt oder mit Nikotin oder Kokain in Verbindung kommt, erhöht sich die Kalzium-Konzentration im Bereich der Synapse, der neuronalen Kontaktstelle. In einem zweiten Schritt induziert dieser Kalzium-Anstieg Genexpression – die Synthese von Proteinen, die zur Neubildung oder Verstärkung synaptischer Verbindungen führt. Bisher sind Wissenschaftler davon ausgegangen, dass die Erhöhung der Kalziumkonzentration nur beim ersten Schritt in diesem Prozess eine Rolle spielt und nicht von Genexpression abhängt.
Genexpression für Plastizität der Nervenzellen wichtig
Ein Team um Pierluigi Nicotera vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) stellt zusammen mit Laboratorien am MRC, Großbritannien, und der Universität von Modena, Italien, diese Annahme nun in Frage. In ihrer Studie zeigen sie, dass die wiederholte Gabe von Nikotin oder Kokain die Expression von Genen, die an der Kalzium-Regulation beteiligt sind, induziert und dass diese Genexpression für die Plastizität der Nervenzellen essenziell ist.
Die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Gabe von Nikotin in Mäusen die Expression eines Gens namens Typ-2-Ryanodin-Rezeptor (RyR2) hervorruft. Das RyR2-Protein ist bei der Freisetzung von Kalzium aus einem internen Kalzium-Speicher der Zelle, dem endoplasmatischen Retikulum, beteiligt. Eine erhöhte RyR2-Aktivität führt den Forschern zufolge zu einer dauerhaften Anhebung des Kalzium-Signals und setzt damit Prozesse der neuronalen Plastizität in Gang.
Geringere RyR2-Aktivität verhindert Gedächtnisbildung
Vor allem in der Hirnrinde und dem ventralen Mittelhirn – Hirnareale, die mit Kognition und Suchtentwicklung in Verbindung gebracht werden – wird die RyR2-Synthese angeregt, was darauf hinweist, dass RyR2 bei diesen Prozessen eine zentrale Rolle spielt. Dies konnten die Wissenschaftler in einem weiteren Experiment bestätigen: Sie zeigten, dass eine Herabsetzung der RyR2-Aktivität in lebenden Tieren Lernvorgänge, Gedächtnisbildung und die Entwicklung von Suchtverhalten verhindert. RyR2 ist also absolut notwendig, um langfristige Veränderungen im Gehirn zu manifestieren.
Diese Erkenntnisse sind ein wichtiger Schritt in der Erforschung von Gedächtnisbildung und Suchtverhalten, schreiben die Forscher im „EMBO Journal“. Auf lange Sicht, so hoffen sie, werden die Ergebnisse zur Entwicklung von Therapien für die Behandlung von Suchterkrankungen oder zu neuen Strategien zur Behebung von Gedächtnisverlust bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer beitragen.
(idw – Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), 29.11.2010 – DLO)