Scheinbares Paradox: Viele Männer haben eine überraschend gute Chance, eine gleichaltrige Frau zu überleben – obwohl diese eigentlich die längere Lebenserwartung hat. So leben 25 bis 50 Prozent aller Männer weltweit länger als eine zufällig ausgewählte Frau ihres Jahrgangs, wie eine Studie enthüllt. Wie hoch dieser Anteil ist, hängt mit der Spannbreite der Lebenserwartungen in einem Land oder einer Population zusammen. Generell haben verheiratete und gebildete Männer aber die besten Chance, zu den „Überlebenden“ zu gehören.
Wie alt ein Mensch werden kann, hängt von vielen Faktoren ab. Sie bestimmen, wie nahe unsere Lebenserwartung dem theoretisch möglichen Höchstalter kommt. Neben den Genen, den persönlichen Umständen und der Lebensweise beeinflusst auch das Geschlecht die individuelle Lebensdauer – Frauen leben im Schnitt länger als gleichaltrige Männer. Der genaue Grund dafür ist unklar, es gibt aber Hinweise darauf, dass dies mit dem doppelten X-Chromosom der Frauen zusammenhängen könnte.
„Der weibliche Überlebensvorteil wurzelt in einer komplexen Kombination der Biologie, der Umweltfaktoren und des Verhaltens und wurde zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Populationen immer wieder beobachtet“, erklären Marie-Pier Bergeron-Boucher und ihre Kollegen von der Universität von Süddänemark in Odense.
Männlichen „Ausreißern“ auf der Spur
Doch wie oft leben Frauen tatsächlich länger als Männer? Zwar ist die Statistik eindeutig, was die durchschnittliche Lebenserwartung betrifft. „Die landläufige Verkürzung ‚Männer sterben früher als Frauen‘ ist aber zu simpel, weil sie die Variation um den Mittelwert nicht berücksichtigt“, erklären die Forschenden. Anders ausgedrückt: Betrachtete man den Einzelfall, kann ein Mann natürlich länger leben als eine gleichaltrige Frau. Wie viele dies sind, hängt von der Spannbreite der Verteilung ab.
Genau dies haben Bergeron-Boucher und ihr Team nun für 199 Länder weltweit und für die Zeit von 1950 bis heute untersucht. Dafür werteten sie Daten zweier internationaler Datensätze aus, die geschlechtsspezifische Lebensdauern für Populationen weltweit erfassen. Zusätzlich analysierten Daten aus den USA, die auch die Lebensumstände wie den Familienstand und das Bildungsniveau enthielten. Insgesamt ermöglichte ihnen dies, die Rate der länger lebenden Männer mit möglichen Einflussfakten in Bezug zu setzen.
Mehr „Überlebende“ als gedacht
Das Ergebnis: Der Anteil der Männer, die der allgemeinen Lebenserwartung trotzen und gleichaltrige Frauen überleben, ist höher als man annehmen würde. Im globalen Schnitt liegt die Chance für einen Mann bei 25 bis 50 Prozent, älter zu werden als eine beliebige Frau seines Jahrgangs. „Von vier Männern überleben ein bis zwei eine zufällig ausgewählte Frau ihrer Altersgruppe“, berichten die Forschenden.
Mit anderen Worten: Zwar liegt die Lebenserwartung insgesamt bei Frauen höher, aber die männliche Minderheit, die es gegen diese allgemeine Statistik zu höherem Alter bringt, ist nicht klein. „Selbst in Ländern, in denen der Unterschied in der geschlechterspezifischen Lebenserwartung bei zehn Jahren liegt, können noch bis zu 40 Prozent der Männer Frauen überleben“, erklären Bergeron-Boucher und ihre Kollegen.
Gebildete und verheirate Männer leben länger
Doch wovon hängt dies ab? Wie die Auswertungen ergaben, spielen persönliche und kulturelle Faktoren sowie der Entwicklungsstand des Heimatlandes eine wichtige Rolle. Denn sie bestimmen beispielsweise, wie viele Jungen schon im Säuglings- und Kindesalter sterben – typischerweise ist die Sterberate bei männlichen Kindern höher als bei weiblichen. Umgekehrt beeinflusst die medizinische Versorgung auch, wie viele Frauen beispielsweise bei der Geburt oder im Kindsbett sterben.
Auch Bildung und Familienstatus beeinflussen, ob ein Mann länger lebt als der statistische Durchschnitt. „Wenig gebildete oder unverheiratete Männer haben eine besonders geringe Chance, eine Frau zu überleben“, berichten die Forschenden. „Männer mit Universitätsabschluss oder einer Ehefrau leben dagegen oft länger als eine gleichaltrige Frau – vor allem, wenn diese ungebildet und Single ist.“
Mehr Ausreißer in ärmeren Ländern
Überraschend jedoch: Die Chance für Männer, Frauen zu überleben, liegt in ärmeren Ländern oder Ländern mit mittlerer Wirtschaftskraft sogar höher als in den reichen Industrieländern. So ist beispielsweise in Europa und anderen wohlhabenden Ländern die Rate der länger überlebenden Männer bis in die 1970er Jahre stetig zurückgegangen, seither stagniert sie.
Die Wissenschaftler führen dies zum einen darauf zurück, dass die Lebensdauer in den reichen Ländern weniger stark streut: Männer und Frauen werden relativ alt und sterben seltener schon in jungem Alter an Krankheiten, Hunger oder Unfällen. Dadurch ist auch die Überlappungszone beider Kurven geringer. Hinzu kommt aber auch, dass Männer in den Industrienationen mehr rauchen und trinken als Frauen und auch häufiger bei Unfällen sterben.
Nach Ansicht von Bergeron-Boucher und ihre Kollegen unterstreichen diese Ergebnisse, dass der statistische Durchschnitt nur bedingt etwas über individuelle Chancen aussagt. „Eine zu vereinfachte Interpretation der geschlechtsbedingten Unterschiede bei der Lebenserwartung kann daher zu einer verzerrten Wahrnehmung der tatsächlichen Ungleichheiten führen“, betonen sie. (BMJ Open, 2022; doi: 10.1136/bmjopen-2021-059964)
Quelle: BMJ