Die Zahl der Megacitys steigt ständig an und erstmals werden in diesem Jahr mehr Menschen in Städten als auf dem Lande wohnen – scheinbar gibt es weltweit einen Trend zu immer mehr, immer größeren sowie immer dichter besiedelten Städten. Doch bei genauem Hinsehen ist der weltweite Urbanisierungsprozess wesentlich vielschichtiger, denn beileibe nicht alle Städte wachsen rasant und kontinuierlich. Vielmehr liegen Wachstums- und Schrumpfungsprozesse oft eng beieinander – doch die hierfür verantwortlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gründe sind sehr unterschiedlich.
Wachstumsprozesse und -probleme
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen nimmt die städtische Bevölkerung um 200.000 pro Tag weiter zu – dies gilt weltweit und besonders für die Entwicklungsländer mit höchster Urbanisierungsrate. Dort breiten sich Städte und Megastädte mit großer Dynamik in ihr Umland aus. Zu den gravierenden Folgen zählen Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Informalisierung, soziale Desorganisation und wachsende Kriminalität, menschenunwürdige hygienische Verhältnisse, hohe Sterblichkeit und Umweltzerstörung. Der scheinbar grenzenlose Verstädterungsprozess hat in Entwicklungsländern inzwischen auch ehemalige Kleinstädte erreicht.
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Der amerikanische Stadtforscher Mike Davis hat angesichts der Folgen dieser rasanten, alle Planungssysteme überfordernden Prozesse die Erde als „planet of slums“ bezeichnet. Die UN Habitat stuft in ihrem Bericht über die Lage der Städte in der Welt 2004/05 die Verstädterung des Südens sogar als „Wettlauf in den Abgrund“ ein. Zentrale Ursache für diese Bewertung ist, dass Verstädterung und Wirtschaftswachstum heute in Entwicklungsländern oft voneinander entkoppelt sind, ganz im Gegensatz zur Urbanisierungsphase während der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert in Europa und den USA. Wirtschaftliches Wachstum aber ist die grundlegende Voraussetzung für die Lösung der immensen Wachstumsprobleme in Entwicklungsländern.
Schrumpfungsprozesse und -probleme
Anders hingegen in Europa: hier sind auch die städtischen Räume vom allgemeinen Bevölkerungsrückgang betroffen. Die Städte schrumpfen. Aber Schrumpfungsprozesse als allgemeingültige Aussage für Europa darzustellen, wäre falsch. Denn vielmehr gibt es auch städtische Regionen wie im Rheinland oder im Maingebiet, die trotz abnehmender Gesamtbevölkerung weiterhin wachsen.
Bisher sind schrumpfende Städte allerdings vorwiegend auf Altindustrieregionen beschränkt, deren industrielle Basis weg gebrochen ist und diese nicht mit ausreichenden Arbeitsplätzen über den Dienstleistungssektor kompensieren können. Aufgrund des demographischen Wandels und seiner Rückkoppelungseffekte werden schrumpfende Städte in Europa aber wohl in Kürze der Normalfall sein. Nur wenige wirtschaftlich besonders starke Städte werden sich mittelfristig noch auf dem Wachstumspfad befinden. Mit der Stadtschrumpfung sind allerdings massive Problemlagen verbunden.
Diese zeigen sich bereits heute nahezu flächendeckend in Ostdeutschland und gehen weit über die bauliche Ebene hinaus. Negative Effekte betreffen insbesondere den Wohnungs- und Arbeitsmarkt, die kommunale Finanzsituation und die Infrastruktur. Hierdurch und über sozialräumliche Polarisierungsprozesse wird die Lebensqualität in schrumpfenden Städten sinken. Trotzdem warnen Wissenschaftler ausdrücklich vor einer pauschal negativen Bewertung der Schrumpfungsprozesse: Bei einem koordinierten, sinnvoll gestalteten Rückbau können Städte erheblich an Lebensqualität gewinnen, etwa durch Ent-Dichtung vormals überverdichteter Wohnbereiche, durch Ent-Flechtung nicht miteinander kompatibler Funktionen (etwa: Wohnen und Freiflächen versus emmissionsintensive Produktion oder Autobahnen) oder durch nachhaltigere Konzepte von urbanen Lebenswelten.
Neuorientierung des Lebensraums „Stadt“
Mit den skizzierten Trends ist die Lebens- und Überlebensfähigkeit des „Systems Stadt“ insgesamt und in ihrer heutigen Funktion in Frage gestellt, so die Wissenschaftler. Dies betrifft die Entwicklungsländer ebenso wie die Industrieländer – trotz der Gegenläufigkeit von scheinbar unbegrenzter Verstädterung im „Süden“ sowie Schrumpfung und Stadtumbau im „Norden“. Aus ökonomischen und ökologischen Gründen ist die Urbanisierung aber nicht umkehrbar. Daher sind sozialverträgliche Lösungsansätze, neue Formen kommunikativer Steuerung und „urban governance“ erforderlich. Der Lebensraum Stadt sowie seine Phänomene und Einflussgrößen sind vielfältiger und vielschichtiger geworden: Urbanisierung kann nicht mehr mit Standardmaßnahmen und –planungsinstrumenten behandelt werden. Vielmehr sind neue, innovative, an die jeweiligen lokalen Verhältnisse angepasste Lösungen erforderlich.
(Redaktion g-o.de, 26.01.2007 – AHE)