Stellarer Todeskampf: Astronomen haben erstmals ein Neutrino detektiert, das beim Tod eines Sterns an einem Schwarzen Loch entstand. Das extrem energiereiche Teilchen wurde frei, als der Stern von den enormen Gezeitenkräften des supermassereichen Schwarzen Lochs auseinandergerissen wurde. Es ist der erste Nachweis eines Neutrinos aus einem solchen „Tidal Disruption Event“ und erst die zweite bekannte Quelle für energiereiche kosmische Neutrinos.
Neutrinos sind in mehrfacher Hinsicht „geisterhaft“: Obwohl pro Sekunde Milliarden dieser Teilchen durch unseren Körper rasen, spüren wir es nicht, denn sie interagieren kaum mit Materie. Zudem können sie sich im Flug von einer der drei Neutrino-Sorten in eine andere umwandeln. Und während viele Neutrinos in der Sonne, bei Supernovae oder durch radioaktive Zerfallsprozesse entstehen, ist die Herkunft der energiereichsten kosmischen Neutrinos bislang kaum bekannt.
Erst 2018 gelang es Forschern, erstmals ein kosmisches Neutrino zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen. Das vom Neutrino-Detektor IceCube am Südpol eingefangene Teilchen mit einer Energie von rund 290 Teraelektronenvolt stammte demnach aus einem Blazar – dem aktiven Schwarzen Loch im Zentrum einer fernen Galaxie.
Fahndung nach der Quelle
Jetzt haben Forscher um Robert Stein vom Deutschen Elektronen Synchrotron (DESY) ein zweites kosmisches Neutrino zu seiner Quelle zurückverfolgt – dem dramatischen Tod eines Sterns. Die Fahndung begann am 1. Oktober 2019, als das IceCube-Neutrino-Observatorium ein seltenes Neutrino mit der hohen Energie von 200 Teraelektronenvolt einfing. Es erhielt die Bezeichnung IC191001A.
Um den Ursprung eines solchen Teilchens zu bestimmen, gleichen die IceCube-Forscher ihre Daten mit denen einer speziellen Himmelsdurchmusterung ab – der Zwicky Transient Facility am kalifornischen Palomar Observatory. Diese sucht den Himmel ständig nach kurzfristigen Ereignissen wie Asteroiden, Supernovae oder Strahlenausbrüchen in fernen Galaxien ab. Im Falle eines kosmischen Neutrinos sucht eine spezielle Software nach Ereignissen, die zur Flugbahn, der Energie und dem Eintreffzeitpunkt des Neutrinos passen.
Ein Stern wird zerrissen
Tatsächlich wurde das System fündig: Im April 2019 gab es einen Strahlenausbruch, der als Ursprung des kosmischen Neutrinos in Frage kommt. Die Strahlung wurde frei, als ein Stern im Herzen einer 700 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie gewaltsam zerrissen wurde. Der Stern war dem supermassereichen Schwarzen Loch im Galaxienzentrum zu nahegekommen und durch dessen enorme Schwerkraft so weit auseinandergezogen worden, dass er zerriss.
„Die Schwerkraft wird stärker und stärker, je näher man einem Objekt kommt“, erklärt Stein. „Das bedeutet auch, dass das Schwarze Loch an der etwas näheren Vorderseite des Sterns stärker gezogen hat als an seiner etwas weiter entfernten Rückseite. Die Differenz, die den Stern gedehnt hat, heißt Gezeitenkraft.“ Astronomen bezeichnen das Zerreißen eines Himmelskörpers durch diese Kraft daher als Tidal Disruption Event – als Gezeitenkraft-bedingtes Zerstörungsereignis.
Erstes Neutrino aus einer Gezeitenkraft-Katastrophe
Nach Angaben der Astronomen spricht vieles dafür, dass das Neutrino IC191001A bei diesem Tidal Disruption Event freigesetzt wurde. „Es ist das erste Neutrino von einer Gezeitenkatastrophe“, sagt Stein. Den Auswertungen zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit eines bloß zufälligen Zusammentreffens von Gezeitenereignis und Neutrino-Freisetzung bei eins zu 500. „Damit könnte dies erst das zweite Mal sein, dass ein energiereiches kosmisches Neutrino zu seinem Ursprung zurückverfolgt wurde“, sagt Koautor Sjoert van Velzen von der New York University.
Spannend ist dies auch deshalb, weil über die Prozesse beim Sternentod durch Gezeitenkräfte an einem Schwarzen Loch bislang nur wenig bekannt ist. Das liegt unter anderem daran, dass die meisten bei diesen Ereignissen freiwerdenden Teilchen geladen sind und daher von intergalaktischen Magnetfeldern abgelenkt werden. Neutrinos dagegen sind ungeladen und rasen weitgehend störungsfrei durch das All. Sie sind damit wertvolle Boten aus derartigen Systemen.
Kosmischer Teilchenbeschleuniger
Um mehr darüber zu erfahren, wie das von IceCube detektierte Neutrino entstanden ist, haben die Astronomen das Tidal Disruption Event in der fernen Galaxie in nahezu allen Wellenbereichen des Spektrums untersucht – von Radiowellen bis zu Röntgenstrahlen. Aus den Ergebnissen schließen sie, dass rund die Hälfte des zerrissenen Sterns direkt ins All geschleudert wurde. Der Rest sammelte sich in einer wirbelnden Akkretionsscheibe um das rund 30 Millionen Sonnenmassen schwere Schwarze Loch.
Damit aus diesem Ensemble auch Neutrinos freiwerden, müssen entweder Protonen mit hoher Geschwindigkeit kollidieren oder energiereiche Strahlung muss auf schnelle Protonen treffen. Wie Stein und sein Team feststellten, erfüllt das Ereignis AT2019dsg diese Kriterien – denn in ihm steckt ein kosmischer Teilchenbeschleuniger. „Der Neutrino-Fund weist auf die Existenz einer zentralen, mächtigen Maschinerie nahe der Akkretionsscheibe, die schnelle Teilchen ausspuckt“, sagt Stein.
Teilchenjet trifft auf Röntgenstrahlung
In einem ergänzenden Modell hat ein zweites Team um Walter Winter vom DESY und Cecilia Lunardini von der Arizona State University die Abläufe beim Ereignis AT2019dsg näher untersucht. Demnach entstand beim Zerreißen des Sterns Ströme aus beschleunigten Teilchen, die nach oben und unten aus dem System schossen. Diese relativistischen Jets prallten dann auf Röntgenstrahlung, die von einer Plasmawolke aus Sternenmaterial zurückgestreut wurde.
„Das Neutrino ist relativ spät aufgetaucht, ein halbes Jahr nachdem das Sternenmahl des Schwarzen Lochs begonnen hatte“, erläutert Winter. „Unser Modell erklärt diesen zeitlichen Ablauf auf natürliche Weise.“
„Nur die Spitze eines Eisbergs“
Nach Ansicht der Astronomen könnte zumindest ein Teil der kosmischen Neutrinos aus solchen Tidal Disruption Events stammen. Sie hoffen aber, künftig noch weitere Quellen dieser schnellen „Geisterteilchen“ aufspüren zu können. „Wir sehen hier vielleicht erst die Spitze des Eisbergs, künftig erwarten wir viele weitere solcher Verbindungen zwischen energiereichen Neutrinos und ihren Quellen“, kommentiert IceCube-Leiter Francis Halzen von der University of Wisconsin-Madison.
„Es wird gerade eine neue Generation von Teleskopen gebaut, die eine höhere Empfindlichkeit für Gezeitenkatastrophen und andere vermutliche Neutrinoquellen bieten“, erklärt der Astronom. „Noch wichtiger ist der geplante Ausbau des IceCube-Neutrinodetektors, wodurch sich die Zahl der beobachteten kosmischen Neutrinos mindestens verzehnfachen dürfte.“ (Nature Astronomy, 2021; doi: 10.1038/s41550-020-01295-8; doi: 10.1038/s41550-021-01305-3)
Quelle: Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY, New York University