Wenn es uns schmeckt, darf es gern ein bisschen mehr sein – selbst wenn wir wissen, dass das eigentlich zu viel ist. Ein Grund dafür: Wir unterschätzen die Größe der Portion, die vor uns steht, wie ein Experiment jetzt belegt. Dabei zeigte sich auch, wie sich unsere fehlgeleitete Wahrnehmung verbessern lässt: Wird uns bewusst gemacht, dass das, was wir da sehen, ungesund ist, schätzen wir automatisch die Portionen realistischer ein.
Warum essen Menschen häufig zu viel? Ein Grund ist, dass sie die Portionsgrößen unterschätzen. Experimente eines internationalen Forscherteams unter Beteiligung der Universität Bonn ergaben, dass die Probanden die Portionen teils nur halb so groß wahrnahmen wie sie tatsächlich waren. Wenn die Testpersonen dagegen die angebotenen Speisen verlockend fanden, aber gleichzeitig wussten, dass diese ungesund sind, kam es zu deutlich besseren Schätzungen der Essenrationen. Die Ergebnisse, die nun im “Journal of Consumer Psychology” veröffentlicht sind, könnten auch Konsequenzen für Gesundheitskampagnen haben.
Wir neigen dazu, Portionsgrößen zu unterschätzen: Eine 300 Gramm schwere Riesen-Schokoladentafel ist häufig genauso schnell verputzt wie eine herkömmliche 100 Gramm-Packung. Und trotz aller Warnungen erfreuen sich stark gesüßte XXL-Drinks großer Beliebtheit. Wer aber auf Dauer zu viel süße und stark fetthaltige Lebensmittel zu sich nimmt riskiert, zum Beispiel an Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erkranken. Was aber führt dazu, dass wir trotzdem zu viel essen?
„Menschen, die gesund essen wollen, neigen dazu, sehr darauf zu achten, was sie Essen, aber nicht genug darauf, wie viel sie Essen“, erklärt Yann Cornil von der Business School INSEAD in Frankreich. „Dies ist ein Problem, da die Portionsgrößen in Restaurants in den letzten 15 Jahren enorm gestiegen sind.“ Warum die Augen größer sind als der Magen, hat Cornil gemeinsam mit Kollegen aus Bonn und Rotterdam nun genauer untersucht.
Registriert wird nur die halbe Portion
Das internationale Forscherteam führte dazu drei verschiedene Experimente mit Teilnehmern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Gesundheitseinstellungen durch. An einem Online-Experiment nahmen insgesamt 84 Grundschüler teil. Auf Fotos präsentierten ihnen Forscher der Universität Bonn zunächst Teller mit Schokoladenstückchen und kleinen Karotten, deren Anzahl ihnen mitgeteilt wurde. Die nächsten Bilder zeigten dann zunehmende Mengen, die die Kinder schätzen sollten.
Das Ergebnis: „Je größer die Rationen wurden, desto mehr unterschätzten die Grundschüler die Schokoladen- und Karottenmengen“, berichtet Bernd Weber vom Life & Brain Zentrum der Universität Bonn. Häufig empfanden die jungen Testpersonen die Portionen nur als halb so groß, wie sie wirklich waren.
Kennzeichnung als „ungesund“ verbessert die Schätzung
Kommt es bei Erwachsenen zu ähnlichen Fehleinschätzungen? Um das zu prüfen, legten die französischen Forscher um Pierre Chandon 115 jungen Erwachsenen Packungen mit Gummibärchen vor, deren Gewicht sie schätzen sollten. Außerdem war die Süßigkeit teils als ungesunde Variante deklariert und zum anderen Teil als Nahrungsmittel mit wertvollen Omega-3-Fettsäuren und Vitaminen.
Hier zeigte sich: Die Testpersonen, die die vermeintlich gesunden Süßigkeiten bekamen, verschätzten sich am meisten. Diejenigen, die die als ungesund deklarierten Gummibärchen schätzen sollten, lagen schon etwas besser. Noch genauer fiel die Einschätzung der Portion interessanterweise aus, wenn die Probanden vorher die Gummibärchen probieren durften.
Gesundheitsbewusstsein hilft
In einem dritten Test wollten die Forscher wissen, ob Menschen, die generell auf ihre Gesundheit achten, Portionsgrößen besser einschätzen können. Dies untersuchten die Forscher um Nailya Ordabayeva, indem sie aus einem Fitness-Studio in Rotterdam insgesamt 116 Männer und Frauen rekrutierten. Die Probanden wurden zunächst zu ihrem Gesundheitsbewusstsein befragt. Dann wurden wiederum Fotos mit unterschiedlichen Mengen Chips präsentiert, die entweder als fettreduziert oder normal ausgewiesen waren.
Tatsächlich bestätigten sich die Vermutungen: Die Versuchsteilnehmer, die sich zuvor als selbst als gesundheitsbewusst eingestuft hatten, schnitten besser ab. Und das vor allem dann, wenn sie es mit der Normal-Chips-Variante zu tun hatten. Offenbar hatten sie das Wissen bereits verinnerlicht, dass Chips fettig und damit eher ungesund sind. Der bloße Anblick reichte daher aus, um eine ähnliche Wirkung zu erzielen wie die explizite Warnung beim Gummibärchen-Test.
Abschreckung allein wirkt nicht
„Die Nahrungsmenge kann offensichtlich dann besonders gut eingeschätzt werden, wenn Probanden das Angebotene verlockend finden und gleichzeitig wissen, dass es ungesund ist“, sagt Ordabayeva. „In früheren Studien am INSEAD konnten wir zeigen, dass unser Gehirn sehr schlecht darin ist, Veränderungen von Portionsgrößen zu unterscheiden. Im Durchschnitt schätzen wir eine Größenveränderung von 100 Prozent nur als 50 bis 70 Prozent größer ein. In dieser Studie konnten wir zeigen, wieso manche Menschen dies besser können als andere“, ergänzt Chandon.
Diese Erkenntnis sei auch wichtig für Kampagnen zur gesünderen Ernährung. Denn die derzeitige Strategie, durch Hinweise auf die Folgen ungesunder Ernährung einseitig auf Abschreckung zu setzen, funktioniere nach den jetzt vorliegenden Resultaten nicht, sagt Weber. Es sollten bei Ernährungstipps nicht nur die negativen Folgen zu süßer und zu fetthaltiger Lebensmittel hervorgehoben werden, sondern auch das positive Gefühl, wenn gesunde Lebensmittel schmecken. Diese Doppelstrategie führe absehbar zu einem genaueren Abschätzen des tatsächlichen Portionsbedarfs. Weitere Forschung zum Thema sei aber erforderlich. (Journal of Consumer Psychology, 2013; doi: 0.1016/j.jcps.2013.09.007)
(Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 08.10.2013 – NPO)